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Von Schuld und Scham und wie es dazu kam

Hans-Ulrich Treichel erzählt eine einfache Geschichte von großer epischer Fülle

Hans-Ulrich Treichels Erzählung beginnt mit einer Standardsituation, der Beschreibung einer Fotografie: Das Bild zeigt Baby Arnold – zwar nicht auf einem Eisbärenfell, aber auf einer weißen Wolldecke -, fröhlich in die Kamera lachend. Die Aufnahme stammt aus dem letzten Kriegsjahr, kurz vor der Flucht aus dem Osten, sie ist das einzige, was den Eltern geblieben ist. Wenig später ist Arnold nur noch "der Verlorene", der in den Wirren von Krieg und Nachkrieg Verschütt-Gegangene. Es besteht wenig Hoffnung, ihn jemals wiederzufinden.

Zuversicht schon gar nicht. Treichels Roman ist aus der Perspektive des jüngeren Bruders erzählt, der von Arnold nur das Portrait mit Wolldecke kennt. Erst haben ihm die Eltern erzählt, Arnold sei tot: "Ich hatte einen toten Bruder, ich fühlte mich vom Schicksal ausgezeichnet. Von meinen Spielkameraden hatte kein einziger einen toten und schon gar nicht einen auf der Flucht vor dem Russen verhungerten Bruder." Doch als er älter, verständiger geworden ist, erfährt der Erzähler die wahre Geschichte: Aus Angst, von den Russen verschleppt, mißhandelt oder umgebracht zu werden, hat die Mutter den Säugling in die Arme einer völlig fremden Frau gelegt. Und ihn dadurch verloren.

Das Leben der Familie, es sind die fünfziger Jahre, kreist pathologisch um die Verzweiflungstat von damals und hat sich zum Schuldkomplex der Mutter ausgewachsen. Es ist kein Glück möglich mit dieser Leerstelle in der Familie, diesem Horror vacui, der die Mutter immer stärker an sich verzweifeln läßt. Tragisch, daß dadurch auch der zweitgeborene Sohn, der Erzähler, nicht zu seinem Recht kommt. Er hat keine Bedeutung, wie das Fotoalbum der Familie beweist, wo sich nirgends eine sorgsame, gelungene Aufnahme von ihm findet.

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Befreiende Komik manifestiert sich in der naiv-narzistischen Perspektive des halbwüchsigen Ich-Erzählers: Er, der Fremdbestimmte, der nur über den Bruder Definierte, entwickelt einen fröhlichen Anarchismus, um seine Stellung zu festigen. Sein größter Wunsch läuft in die Gegenrichtung: Er hofft inständig, daß die Eltern mit ihren Nachforschungen nicht weiterkommen mögen. Würde er doch andernfalls sein Kinderzimmer mit dem älteren Bruder teilen müssen. Einem völlig Fremden zumal, einem mittlerweile fast schon Erwachsenen.

Die monomanischen Sprechakte des Erzählers entladen sich bisweilen in beinahe Bernhardschen Suaden, und sie sind der formale Ausdruck seiner Entschlossenheit, sich im Windschatten des Interesses gegen das Bruderphantom zu behaupten.

Seit seiner Geburt erfährt sich dieser Erzähler als Mahnmal: Jeder Bissen auf der Gabel ist ihm peinlich, als sei er ein Brutparasit, ein Kuckuck, dessen Ruf nur die aus dem Nest geworfenen Eier verhöhnt. Er wächst zum Kainszeichen des verlorenen Bruders heran, er entwickelt eine verquere Variante der Bulimie, als habe er keinen Wert an und für sich. Die eigentliche Schuld der Eltern beginnt genau hier, indem sie nicht in der Lage sind, wenigstens ihren zweitgeborenen Sohn als ein Wesen Sui generis zu lieben.

Diese Geschichte von Schuld und Scham und wie es dazu kam hört sich, derart referiert, einigermaßen düster an, moralinsauer fast. Das ergäbe einen ganz falschen Eindruck: Denn das Besondere an diesem Buch von Hans-Ulrich Treichel ist sein emotionales Relief. Die große Dynamik und Bandbreite dieses wunderbaren Buches definieren sich gerade durch den abgründigen Witz, die befreiende Komik, die freilich flugs in einen beklemmend-melancholischen Gestus umkippen kann.

In der Gestaltung des Unversöhnlichen, der inneren Spannungen der Person, offenbart sich Hans-Ulrich Treichels große Erzählkunst. Als die Eltern bei ihren Nachforschungen auf das Findelkind 2307 stoßen, beginnt eine Groteske sich auf genagelten Sohlen anzukündigen. Es ist schon lange nicht mehr Hoffnung, sondern Wahn, der die Suche der Eltern bestimmt. Sie stürzen sich, wild entschlossen, jedes halbwegs passende Kind als das ihrige zu akzeptieren, in immer neue Nachforschungen. Da es den genetischen Fingerabdruck noch nicht gibt, setzen die Ärzte auf physiognomische und phrenologische Gutachten. Ein nachgerade beklemmendes Kapitel aus der Medizingeschichte: hier stützt sich die Wissenschaft auf die Anschauung – ohne jedoch dem Augenschein trauen

zu dürfen. Daraus ergibt sich eine bizarre Situation, die in dieser Kritik nicht

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vorweggenommen werden sollte, weil sie ein zentrales Moment für den Handlungs- und Spannungsbogen des Romans darstellt. Nur eines sei gesagt: Sie erinnert fatal an die nazistische Rassenlehre eines Hans Günther und damit an den Positivismus des 19. Jahrhunderts, der spätestens mit den fürchterlichen Ärzten des Nazi-Regimes seine Unschuld verloren hat.

Diese Spannungen spiegeln sich nicht zuletzt in der gesellschaftlichen Zerrissenheit wider. Die unterschwellige Dynamik des Romans führt uns durch sehr heterogene Stimmungslagen. Wenn - wie hier - ein Leichenkutscher detailliert, ausführlich und voller Stolz vom neuen Krematorium schwärmt, dann bedarf es keines zusätzlichen Winkes mehr. Der Leser versteht und bewundert die strenge Ökonomie, die Treichel konsequent walten läßt. Zum kollektiven Bewußtsein der westdeutschen Nachkriegswirklichkeit gehört etwa der dargestellte Russenhaß, der eine kaum mehr zu bremsende Eigendynamik entwickelt. Teil der Mentalitätsgeschichte ist auch die moralische Last der Naziverbrechen, sowie die Bürde der Integration der Vertriebenen

Alle Suche läuft schließlich auf das Findelkind 2307 hinaus – inzwischen "fast schon ein junger Mann", den die Suchdienststelle des Roten Kreuzes im Angebot hat. Das Findelkind sei am selben Tag wie Arnold, nämlich am 20. Januar 1945, "einer fremden Frau in die Arme gelegt worden". "Wohl sei die Ähnlichkeit mit ihm, dem Vater, und auch der Mutter, nicht so groß, daß man von dieser Ähnlichkeit ohne weiteres eine Verwandtschaftsbeziehung ableiten könne. Eine verblüffende Ähnlichkeit würde der Junge aber mit mir, dem mutmaßlichen Bruder, aufweisen."

Kein Zweifel, Treichels Erzählen hat die Kraft und Tragfähigkeit der großen Mythen. Auf eine Variante des Mythos vom Narziß oder dem des Schreckens der Medusa läuft es hinaus, wenn die – nur mit sich und ihrem Verlust beschäftigte – deutsche Fünfzigerjahrefamilie den "Verlorenen" durchs Schaufenster betrachtet: als würde sie vor dem eigenen Spiegelbild erschrecken und zur Statue aus parischem Marmor erstarren. Doch die Schlußpointierung des "Verlorenen" läuft in eine andere Richtung. Der Autor, der den Krieg nicht mehr erlebt hat – Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold/Westfalen geboren -, gibt uns quasi ein Lehrstück, wie es nach dem Krieg möglich war, der Wahrheit ins Auge zu sehen, ohne für immer zu erstarren. Doch `Lehrstück´ klingt zu sehr nach Brecht: Treichel erklärt nichts, sondern überläßt die Erklärung dem Gefühl. Der Titel seines Romans läßt auch eher an Camus denken: Erzählt wird eine einfache Geschichte von großer epischer Fülle, die bis zuletzt ihre Spannung bewahrt – die rätselhaft und doch zugleich ganz plausibel zuende geht.

LUTZ HAGESTEDT

Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 176 Seiten, 32 Mark.

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