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Von Liebe und Terror

Nicholas Shakespeare mißt sich an großen Vorbildern

Dyer, Ich-Erzähler und Lateinamerika-Korrespondent, will sich mit einem "wahren Meisterwerk" von seinem Büro in Rio de Janeiro verabschieden, bevor man ihn weglobt auf einen ungeliebten Posten in Moskau oder Jerusalem. Seine Reportage kommt nicht zustande, stattdessen entsteht dieses Buch, dieser eng an historischen Ereignissen entlanggearbeitete Roman. Ideen- und Inspirationsquelle ist zum einen Perus jahrelanger Kampf gegen den einstigen Philosophieprofessor und Terroristen Abimael Guzmán und seine maoistische Terrorbewegung "Leuchtender Pfad" ("Sendero Luminoso"). Quelle seines Erzählens ist zum anderen eine Traditionslinie, die um 1900 in Brasilien ihren Ausgang nahm und mittlerweile Weltliteratur geschrieben hat.

Die zweite Haupt- und Erzählerfigur des Romans ist Oberst Agustín Rejas, ein Undercoverermittler der peruanischen Polizei, zugleich der Mann, der sich rühmen darf, den meistgesuchten Terroristen des Kontinents, Edgardo Vilas alias Presidente Ezequiel (alias Abimael Guzmán), zur Strecke gebracht zu haben.

Dyer, der Lateinamerika-Korrespondent, und Agustín, der Polizeioberst, treffen halb gezielt, halb zufällig aufeinander. Sie kommen ins Gespräch, weil sie dasselbe Buch lesen: "Krieg im Sertão" von Euclides da Cunha. Dieses Buch steht in der Logik von Shakespeares Roman zeichenhaft für den tiefgreifenden Konflikt, den Peru in sich auszutragen hat, für die Metamorphose, die Dyer und Agustín erfassen wird:

Beide reifen durch die Umstände zu Erzählern, ähnlich, wie der Journalist und Ingenieur Euclides da Cunha, dessen Buch "Krieg im Sertão" hier so absichtsvoll zufällig ausgelegt wird, im Angesicht des Schreckens zum Erzähler wurde.

Dessen Reportagenbuch, "Krieg im Sertão" stellt so etwas wie die Geburtsstunde der modernen lateinamerikanischen Literatur dar. Die wichtigsten, gerade auch peruanischen Autoren haben der virtuosen Erzähltradition, die es begründete, Referenz erwiesen. Man denke an den magischen Realismus Manuel Scorzas und – den berühmteren Fall – an Manuel Vargas Llosa und seinen Roman "Der Krieg am Ende der Welt".

"Krieg im Sertão" schildert die Schlußphase der kriegerischen Rebellion von Canudos im Jahr 1897. Damals hatte Antônio Maciels, ein charismatischer Bauernführer im Bahía, im unwirtlichen Nordosten Brasiliens, rebellische Indios um sich geschart und ein autarkes Gemeinwesen gegründet. Der brasilianische Ingenieur und Journalist Euclides da Cunha war Augenzeuge: Er beschrieb in seinen berührenden Reportagen, wie das Militär im Auftrag der brasilianischen Zentralregierung die Bauernrevolte blutig niederschlug; er untersuchte die historischen Ursachen des Konfliktes und fand sie unter anderem in den nie bewältigten Verbrechen der portugiesischen Kolonisiation. Er beschrieb, ganz erfüllt von der positivistischen Gewissenhaftigkeit des 19. Jahrhunderts, die sozialhistorischen, geologischen, klimatischen und kulturellen Ursachen des Konfliktes. Und er schuf durch seine detaillierte, nah am Geschehen, am Milieu, am empirischen Objekt orientierte Beschreibungskunst ein Meisterwerk der Faction-Literatur, das auch uns (in der vorzüglichen Übersetzung von Berthold Zilly) seit einigen Jahren vorliegt.

Wie ein Palimpsest scheint "Krieg im Sertão" auch hier unterlegt zu sein. Agustín Rejas, der erfolgreiche Terroristenjäger, ist ein idealer Erzähler. Als Mestize trägt er spanisches und indianisches Blut in sich und bildet eine Durchschnittsmenge beider Kulturen. Er ist in den Hochanden aufgewachsen und hat seinen Weg in die peruanische Hauptstadt genommen. Er hat eine Weiße geheiratet und mit ihr eine zwölfjährige Tochter. Er kennt die Nöte der Armen ebenso wie die Bedürfnisse der Reichen.

Ezequiel, der Terrorist, ist sein Antagonist. Er ist Indio, leidet aber an einer Krankheit des weißen Mannes – an der Psoriasis, der Schuppenflechte. Diese Krankheit ist sein Verhängnis: Sie nagt schmerzhaft an ihm, sitzt überall, hat sich im Nacken und an den Innenseiten der Beine ausgebreitet, ja sich bis in den Spalt der Hinterbacken vorangefressen. Sie macht ihm das Leben zur Hölle, so wie er anderen die Hölle auf Erden bereitet.

In Nicholas Shakespeare Roman fungiert die Schuppenflechte als Bild für das dichte Gewebe des Terrors, das sich im Land ausbreitet. Der Terror dringt aus dem mythischen Hochland des Ausangate in die Täler und Dörfer vor und gelangt von dort in die Städte und bis nach Lima. In der Hauptstadt löst er Panik und eine Gegenbewegung des Terrors aus, die von General Lache, einem peruanischen Pinochet, ihren Ausgang nimmt. Jetzt wird auch von Staats wegen gemordet, wird mit brutaler Härte und Rücksichtslosigkeit gegen vermeintliche Sympathisanten Ezequiels vorgegangen – ohne erst Schuldbekenntnisse oder Beweise abzuwarten.

Selbst Agustín, der – wie es scheint – einzige gute und gerechte Vertreter der Staatsmacht, den zwölf Jahre ergebnisloser Kampf gegen die unsichtbaren, effektiv arbeitenden Guilleros nicht haben korrumpieren können, wird mürbe: Denn der Staatsterror stellt alles infrage, wofür er gekämpft hat. Schon beginnt er, sich wiederholt selbst im Nacken zu kratzen, als habe die Flechte des Terrors auch auf seine Haut übergegriffen.

Es sind unter anderem diese kleinen Zeichen, die Shakespeares Buch spannend und wertvoll machen. Shakespeare erzählt bildhaft, und viele Mikrogeschichten aus Agustíns Polizeierfahrung, bereiten den Leser schon frühzeitig auf den zentralen Konflikt des Romans vor. Eine Schlüsselszene erzählt von einem reichen Amerikaner und seiner Frau Polita, einem Fotomodell. Polita gerät eines Tages in Agustíns Fänge: Er hat sie beschatten lassen, ist ihren Spuren gefolgt und kann bald die erfolgreiche Festnahme einer Terroristin verbuchen. Ihr Mann fällt aus allen Wolken, hat vom Doppelleben seiner Frau nichts geahnt. Ganz ähnlich wird es Oberst Agustín selbst ergehen: Er wird sich in eine Tänzerin verlieben und nicht glauben können, daß sie zum innersten Zirkel um Ezequiel gehört. Ihretwegen wird er dem Journalisten Dyer seine Lebensgeschichte erzählen.

Der Engländer Nicholas Shakespeare (geboren 1957) hat ein beachtliches, handwerklich solide gearbeitetes Buch geschrieben. Er hat viele Jahre in Lateinamerika verbracht und sich den Respekt Mario Vargas Llosas erschrieben. Gleichwohl ist dieser der genialere Erzähler: Etwa zeitgleich mit Shakespeares Buch ist Vargas Llosas Roman "Tod in den Anden" entstanden, der sich aus demselben Stoff und aus derselben Erzähltradition speist. Und während Vargas Llosa mit traumwandlerischer Sicherheit vom Grauen und der Liebe kündet, rutscht Shakespeare gelegentlich ab – in den Kitsch des Gesellschaftsromans und der (männlichen) Selbsterfahrungsprosa. Auch bleiben einige seiner Nebenfiguren, der Polizeikadett Sucre etwa, blaß und konturenlos. Mängel, die letztlich nicht ins Gewicht fallen, wenn man sich sehr gut unterhalten hat. Ein Wichtiges ist Shakespeare gelungen, und es ist schön, das beobachten zu dürfen: wie ein kontinentales, historisch eng begrenztes Thema geöffnet wird, wie sich eine Erzähltradition, die vor bald hundert Jahren auf einem winzigen Plateau begründet wurde, Thema der Weltliteratur wird.

LUTZ HAGESTEDT

NICHOLAS SHAKESPEARE: Der Obrist und die Tänzerin. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998. 384 Seiten, 39,80 Mark.

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