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Zu flüchtig, zu flach

Martin Kluger verschenkt eine respektable Geschichte

MARTIN KLUGER: Die Verscheuchte. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1998. 182 Seiten, 32 Mark.

Die Geschichte ist (zu) rasch erzählt: Tali Zwikatz, Punkerin aus Berlin, fährt mit ihrem berühmten jüdischen Dichter-Vater George Zwikatz nach Auschwitz. In Auschwitz ist die einzige Schwester des Dichters umgekommen, während er, damals zehnjährig, in das sichere London verschickt wurde: "Es ist nur ein Platz für ein Zwikatz-Kind im jüdischen Kindertransport gewesen." Nach dem Krieg bildet Vater George das typische Überlebenden-Syndrom aus, entsteht aus der `Schuld´ des Davongekommenseins der berühmte Klagegesang "Hopalong Cassidy". Seine Tochter benennt George nach der verlorenen Schwester: "Tali kommt von Tal Sheli und bedeutet Mein Morgentau".

Für Tali, die 17jährige (später 18jährige) Ich-Erzählerin des Romans, ist das `Bild´ der in Auschwitz umgekommenen Schwester des Vaters Bürde und Medium der Selbstbegegnung zugleich. Kein Wunder, daß ihre Individuation schwierig verläuft.

Martin Kluger, geboren 1948 in Berlin, hat einen seltsam anrührenden und merkwürdig verunglückten Roman geschrieben. Seine Hauptfigur, eine zugleich kecke und überaus komplizierte Berliner Rotznase, yachtet mit himmelhochjauchzender Vitalität durch (fast) alle Lebenslagen, um im nächsten Augenblick mit zu Tode betrübter Miene bei ihren Freunden Trost zu suchen. Sie schlägt sich mit allerlei Aushilfsjobs durchs Leben, sogar als Beerdigungsrednerin versucht sie sich. Sie ist im Grunde ihres Herzens unglücklich, und dann verliebt sie sich auch noch unselig in Karin Lindner, die neue Lebensgefährtin ihres Vaters, eine bekannte Dramatikerin – und bildet sich ein, es sei eine lesbische Liebe. Als sie erfährt, daß Karin und Vater George das ultimative Auschwitz-Stück schreiben wollen, rebelliert sie, versucht sie, diesen Plan zu hintertreiben.

Merkwürdig verunglückt ist dieser Roman, weil Martin Kluger sich die Zeit nicht nimmt, seine Ideen reifen zu lassen und zu entwickeln. Beispielsweise jene schöne Idee, am Grabe eines Selbstmörders eine Laienpredigt zu halten. Was für ein Kabinettstück, was für ein herrliches Desaster hätte das geben können – bei Martin Kluger ist die Szene mit ein paar Strichen durchgeführt und verschenkt. Ungeduldig geht der Autor auch die Theaterproben für das Auschwitzdrama "Purgatorium" an: Soll man es für einen guten Einfall halten, daß während der Proben zu einer Weltuntergangsparabel Ohrfeigen verteilt werden? Von der empörten Regisseurin, die mit der Bühnendisziplin der Truppe nicht zufrieden ist, auf einer Bühne, die als Gaskammer konzipiert wurde?

Einigermaßen hilflos ist auch ein Besuch beim Seelenarzt dargestellt, und – offenbar ohne Milieukenntnisse geschrieben – Talis Zwischenspiel in der Universität.

Desgleichen habe ich, mit wachsendem Mißtrauen, die sprachliche Bewältigung der Fabel beobachtet. Natürlich, das Buch ist als Schelmenroman konzipiert – was Tali von sich gibt, ist Rollenprosa einer kaum erwachsenen Punkerin (mit der Vorliebe für Fremdwörter). In ihrer Rede pelzt sich Berliner Flachdeutsch einen schwerfälligen Archaismus auf (... sie fragten mich, "ob ich selber schrübe"), der durch den immanenten, mitzulesenden ironischen Gestus nicht aufgewogen werden kann.

So spricht aus dieser Sprache, bei allem Respekt, "etwas Altes, etwas Totes". Es war vom Autor zweifellos anders intendiert – daß es so angekommen ist, ist letztlich schade. Es bleibt ein schaler Nachgeschmack.

LUTZ HAGESTEDT

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