Zurück   Zur Startseite

Die Linie bestimmt das Werk

Aus dem kurzen, intensiven Leben des Keith Haring

Man könnte über Keith Haring dasselbe sagen, was Gustave Moreau über Matisse sagte: er sei "dazu geboren, die Malerei zu vereinfachen". Haring selbst war sich manchmal nicht sicher, ob er ein "Maler" oder ein "Zeichner" sei, so bestimmt war er von der einfachen Linienführung, den klaren, plakativen Flächen und Formen, für die er berühmt wurde. Schließlich kam er zu der Überzeugung, daß in seiner Kunst der Unterschied zwischen Malen und Zeichnen aufgehoben sei.

An seinem OEuvre sind zwei Aspekte herauszuheben. Der eine betrifft Harings Künstlerbiographie und seine Auffassung vom Künstler als Kunstwerk, der andere betrifft die öffentliche Resonanz seiner Kunst. Kunst im öffentlichen Raum hat mit Keith Haring eine neue Qualität erreicht. Er hatte ein völlig anderes Konzept als seine Zeitgenossen, eines, das – paradoxerweise – an die Zeit vor der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks erinnerte. Er besuchte eine Stadt oder ein Land und produzierte Kunst an Ort und Stelle: "Ich war ohne Materialien hingefahren und hatte erst, nachdem ich den Raum gesehen hatte, beschlossen, was ich dort machen wollte." Nicht viel anders haben es die Alten gemacht, wenn sie zu Auftragsarbeiten unterwegs waren (oder, wie Caravaggio, auf der Flucht). Einmal, als er Gipsplastiken in Mailand bemalt hat, seufzt Haring: "Ich wünschte nur, Michelangelo könnte sie sehen – aber vielleicht kann er΄s ja." Was den PopArt-Künstler des 20. Jahrhunderts aber von den Alten unterscheidet, ist die sehr viel größere Mobilität und Spontaneität: In Italien bemalt er mannshohe Terrakotta-Vasen, er zeichnet mit Kreide auf die Straßen von Amsterdam, er malt auf den Körper von Grace Jones oder verwandelt in Monte Carlo den Po eines Modells mit verschiedenfarbigen Sonnenschutzcremes in ein lebendiges Kunstwerk. Er entwirft und realisiert ein Wandgemälde für ein Kinderkrankenhaus in Paris und bemalt den Sarg seines verunglückten Freundes Yves Arman. Überall wird er zu spontanen Gesten und Aktionen gedrängt, schon trifft er überall auf Spuren seiner Kunst, nicht immer zu seiner Freude, denn Produktpiraten überschwemmen die Märkte mit gefälschten Haring-Motiven.

Anfang zwanzig ist er noch Student, Ende zwanzig bereits weltberühmt. 1980 beginnt er, auf Plakatwände der New Yorker Subway zu malen, bald schon besucht er die Museen, um die Flächen für die eigenen Werke zu betrachten. Die Mechanismen der Kunstwelt versucht er dadurch zu stören, daß er sich eine starke Stellung als "Künstler in der Welt" aufbaut. Aber diese Versuche, sich "frei" zu halten, werden vom Markt rasch kooptiert. Er wird vereinnahmt, das macht ihn unduldsamer und mißtrauischer, je größer seine Popularität wird, je mehr Leute von seinem Erfolg zu profitieren suchen.

In seinem Tagebuch versucht er, die Signale und Informationen, die er empfängt, zu verarbeiten. Er möchte mit sich und anderen "ehrlich" sein. Er möchte seine Arbeiten nicht erklären – die sollen für sich selber sprechen –, aber über seine Arbeitsweise, seine Intentionen, seine wichtigsten Bildungseinflüsse spricht er gern. Klug führt er sich (und uns) an andere Künstler heran, zum Beispiel an Mark Rothko, George Condo und Frank Stella, auf dessen Erfolg in der etablierten Kunstszene er eifersüchtig ist. Robert Henri und Jean Dubuffet bezeichnet er als die literarischen Quellen seiner Philosophie. Durch Brion Gysin und William Bourroughs, so glaubt er, wurde er in die "Bruderschaft" der Künstler aufgenommen. Entschieden ist er auch in seiner Ablehnung: "Julian Schnabel ist kein Genie. Er ist wahrscheinlich nicht mal ein großer Maler [...]. Mich ekelt vor seiner beharrlichen Wichtigtuerei." Oder: "Wenn ich Willem de Koonings scheußliche neue Bilder in der Ausstellung im Stedelijk sehe, graust es mich. Lieber tot sein, als so einer werden."

Der Tod, der ihn früh ereilte, beschäftigte ihn auch früh. Seit Anfang 1987 mehren sich die Gerüchte, daß er Aids habe. Haring weiß, daß er gefährdet, vielleicht schon infiziert ist: "Darum sind meine Projekte und Aktivitäten jetzt so wichtig. So viel tun wie möglich und so schnell wie möglich." Wann genau er erfährt, daß er HLV positiv ist, sagt sein Tagebuch nicht. Er führt es seit den 80er Jahren fast ausschließlich auf seinen Reisen, und er kommt meist nicht dazu, wenn er in New York ist. Irgendwo in den großen Lücken, die dadurch auftreten, ist der Befund verborgen. Aber es ist ihm in dieser Zeit schon klar, daß er nicht lange zu leben hat.

Haring geht davon aus, daß sein Tagebuch einmal von anderen gelesen werden wird. Das schöne daran ist, daß es, ohne exhibitionistisch zu sein, einen guten Eindruck einer schwulen Künstlervita am Ende des 20. Jahrhunderts vermittelt. Es fehlt jener provokative Gestus, die sexuelle Orientierung auszustellen und vorzuführen, um sich und anderen das Normale daran zu beweisen. Aber man spürt die innere Beteiligung des Augenmenschen, der "über das erwiderte Lächeln auf der Straße" nachdenkt oder über die Zurückweisung in der Badeanstalt: "Er will dich nicht – und nicht nur das –, und was hätte geschehen sollen, geschah nicht. [...] Ein Mißverständnis, hat er gesagt. Mir ist übel vor kaltgewordener, verschrumpelter Begeisterung, habe ich gesagt." So diskret und so atmosphärisch dicht kann er sein, wenn er über eine Niederlage spricht. "Ich habe", schreibt er eines Tages resignativ, "nie richtig verstanden, was Liebe ist."

Auch seine Erfolge sieht er sehr skeptisch. Er hat das Gefühl, von seinen Malerkollegen akzeptiert zu sein, aber von den großen Museen der Welt hingehalten zu werden: "Manchmal habe ich Zweifel, ob meine ganze Existenz viel wert ist." Die raschen Veränderungen, zum Beispiel das In und Out der Graffiti-Kunst (der er sich nicht zurechnet), nimmt er auf intelligente, sehr reflektierte Weise wahr. Viele Tagebucheinträge sind wie kleine Essays, in denen er die große zeitgenössische Kunst taxiert und interpretiert und aus dem Inneren des Kunstmarktes berichtet. Er begreift, wie wichtig es war, seine Arbeiten durch Foto und Video systematisch zu dokumentieren. Erst diese Medien haben seine weltweite Popularität ermöglicht.

Im März 1989 ist er in Casablanca; überall Kaposi-Sarkom-Flecken am Körper, scheut er sich, die marokkanischen Jungen anzusprechen: "Die Fähigkeit zu verführen und die Freude an der Kunst der Verführung habe ich vollständig verloren – und damit die Quelle von vielem, was mich dazu inspirierte, zu arbeiten und zu leben." Am 16. Februar 1990 stirbt Keith Haring. Die vorliegenden Tagebücher führen sein Leben weiter: Auf den letzten Seiten dokumentiert Thompsons Edition für jedes Jahr (bis 1995) die wichtigsten Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen, die Kataloge, Monographien, Sonderprojekte, die in seinem Namen erscheinen bzw. veranstaltet werden. Das hat diesen tröstlichen "Das Leben geht weiter"-Effekt, auf den alle große Kunst hinarbeitet.

LUTZ HAGESTEDT

KEITH HARING: Tagebücher. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krege. Mit einer Einleitung von Robert Farris Thompson und einem Vorwort von David Hockney. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1997. 302 Seiten, 48 Mark.

Zurück   Zur Startseite