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Ein Wellenbad der Gefühle

Die Briefedition der sämtlichen Briefe Heinrich von Kleists

    Heinrich von Kleist: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811.
    Herausgegeben von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns.
    Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/M. 1997.
    1.280 Seiten, 165 DM. In Leder 276 DM.

Heinrich von Kleists Briefe – das heißt einmal tief einatmen und durch! Denn es ist kein reines Vergnügen, sich mit Kleists Briefen zu beschäftigen. Wer den Dichter liebt, den genialen Autor so unsterblicher Werke wie "Der zerbrochene Krug", "Das Käthchen von Heilbronn" oder "Michael Kohlhaas", den müssen die Briefe befremden. Die Kleistbriefe haben die Forschung von jeher irritiert, verstört, angeregt, sie haben etwas gleichsam Unerlaubtes, Unsägliches und Unerträgliches an sich, am liebsten würde man sie gleich wieder vergessen, um das Dramen- und Novellengenie um so höher zu halten.

Der Briefeschreiber Kleist zieht den Dichter Kleist unerbittlich ins Menschlich-Allzumenschliche hinab. Welch ein Kauz, Kindskopf und Dunkelmann (besser: Dunkelmann-Darsteller), möchte man ausrufen, wenn man die mitunter peinigenden Traktate liest, die er an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge oder an seine Halbschwester Ulrike schreibt; welch eine Geheimnistuerei macht er um seine Würzburger Reise; wie penetrant ist sein Versuch, der immer großmütigen und nachsichtigen Ulrike die Ehe aufzuschwatzen: "Es scheint mir, als ob Du bei Dir entschieden wärest, Dich nie zu verheirathen. Wie? Du wolltest nie Gattinn u Mutter werden? Du wärst entschieden, Deine höchste Bestimmung nicht zu erfüllen, Deine heiligste Pflicht nicht zu vollziehen? Und entschieden wärst Du darüber? Ich bin wahrlich begierig die Gründe zu hören, die Du für diesen höchst strafbaren u verbrecherischen Entschluß aufzuweisen haben kannst."

Sicher, man darf diese Briefe nicht nur mit den Augen des 20. Jahrhunderts lesen. Aber auch um 1800 schon geht dieser Ton über das Zulässige hinaus. Nicht Sorge um das Wohlergehen der drei Jahre älteren Halbschwester (die Kleist um 38 Jahre überleben wird) prägt diese Tonlage, sondern naseweise Überheblichkeit, Arroganz, selbst Zynismus. Allzuoft ist Kleist bei Ulrike Bittsteller, abhängig von ihr, profitiert er von ihrem Großmut, und so muß er sich wohl auf diese rüde Art von ihrer Dominanz befreien.

Wir wollen nicht spekulieren und nicht psychologisieren. Sondern davon sprechen, wie es dem Leser bei der Lektüre der Kleist-Briefe ergeht. Oh, es ergeht ihm bei all den Zumutungen nicht schlecht, denn er wird durch ein Wellenbad der Gefühle geschickt: es ist bewegend und es ist lehrreich. Der Leser sitzt zähneknirschend über diesem Briefwerk, dann wieder erheitert, oft bewundernd. Bewunderung etwa für Ulrike von Kleist, deren Persönlichkeit wir quasi aus dem "Off" erschließen müssen, da ihre Briefe nicht erhalten sind. Diese Ulrike von Kleist hat Langmut bewiesen, hat ihrem Halbbruder immer wieder Geld vorgestreckt, hat sich Sorgen gemacht um ihn. Sie ist es gewesen, der Kleist wiederholt seinen Selbstmord angekündigt hat, vielleicht öfter, als es diese Briefe dokumentieren. Weil der Ruhm, "das größte der Güter der Erde", ihm versagt bleibe, schreibt er am 26.10.1803, wolle er sich in den Tod stürzen. Sein Werk habe er, "so weit es fertig war, durchlesen, verworfen und verbrannt: und nun ist es aus."

Was muß diese Frau um Kleisten ausgestanden haben. Sie sah mit an, wie er seine Offizierslaufbahn hinschmiß, wie er seine Universitätsstudien halbherzig und ohne Resultat betrieb, wie er das väterliche Erbe durchbrachte und sich vergeblich dem Dichterruhm an die Rockschöße zu heften versuchte. Sie erfuhr endlich von seinem schrecklichen Tod am Wannsee (1811), sie erlebte noch die von Ludwig Tieck besorgten Ausgaben der "hinterlassenen" (1821), "gesammelten" (1826) und der "ausgewählten Schriften" (1846/47).

Eine Ausgabe seiner Briefe erlebte sie nicht mehr, und vermutlich wäre sie über das erhaltene Briefwerk nicht sehr glücklich gewesen. Für uns haben diese Dokumente freilich einen anderen Stellenwert. Heute, knapp 150 Jahre nach Ulrikes Tod, halten wir eine sorgfältige, alles in allem ökonomisch konzipierte Brief-Edition in den Händen. Klaus Müller Salget und Stefan Ormanns haben im Deutschen Klassiker Verlag die "erste in Wortlaut und Schreibweise authentische, neu geordnete, umfassend dokumentierte und kommentierte Ausgabe" vorgelegt. Ein paar Worte zum Ökonomieprinzip: Der Deutsche Klassiker Verlag (DKV) hat es sich zur Aufgabe gestellt, zuverlässige, gesicherte und schlank kommentierte Leseausgaben zu edieren. Nicht sperrige, historisch-kritische oder faksimilierte Werkausgaben sind das Ziel, sondern handliche Formate, die in den Erläuterungen das notwendige kulturelle Wissen für ein interessiertes Publikum bereitstellen. Die Editionen sind in der Regel der "heutigen Orthographie" mehr oder weniger behutsam angenähert – eine Entscheidung, die sich angesichts der bevorstehenden Rechtschreibreform als problematisch erweisen könnte. Gottseidank verzichtet der Kleist-Briefband auf jegliche Modernisierung, hält sich strikt an die Wortgestalt der überlieferten Vorlagen und weicht insofern von den Editionsprinzipien des DKV ab.

Noch eine andere Besonderheit fällt sofort ins Auge: Text und Kommentar der leserfreundlichen DKV-Ausgaben sollen das Verhältnis zwei-zu-eins möglichst nicht verschieben. Der vorliegende Band sämtlicher Briefe weicht von diesem Prinzip entscheidend und aus guten Gründen ab. Es ist die "beklagenswert schlechte Überlieferung des Kleistschen Briefwerks", die dazu geführt hat, daß sich das Verhältnis Text zu Kommentar hier nahezu umkehrt, daß diese Ausgabe Lesarten und Varianten umfänglich nachweist und daß sie den Bestand und die Reihenfolge der Briefe ausführlich diskutiert und variiert. Gleichwohl gehen die beiden Herausgeber der Briefe, Klaus Müller-Salget (Innsbruck) und Stefan Ormanns (Bonn), streng ökonomisch und oft mit bewundernswerter Gelassenheit vor. Dafür ein Beispiel: Im Jahre 1800 reist Kleist, zusammen mit Ludwig von Brockes, nach Würzburg. "Aus hochwichtigen Gründen" bemäntelt er den Anlaß seiner Reise, die ihn ursprünglich nach Wien führen sollte. Die Briefe von dieser "Würzburger Reise" stellen ein "Musterbeispiel kunstvoller Verrätselung" dar. Und sie haben dazu geführt, daß der biographische Zweig der Kleist-Forschung recht wunderliche Blüten getrieben hat. Bisher waren vier spekulative Haupttriebe auszumachen: Der erste glaubt, Kleist habe in Würzburg "Hilfe für ein körperliches Leiden gesucht, das ihn eheuntauglich machte"; der zweite glaubt, Kleist habe sich habilitieren wollen; der dritte spricht von einer Spionagemission Kleists im Interesse der preußischen Industrie; und der vierte Zweig endlich will wissen, daß es Kleist um die Aufnahme in eine Freimaurerloge gegangen sei. Umfängliche Monographien wurden darüber verfaßt und machen einen nicht geringen Anteil der Kleist-Forschung aus. Knapp und gelassen diskutieren die Herausgeber der Kleist-Briefe die Thesen ihrer Fachkollegen, um sie freundlich aber bestimmt zurückzuweisen. Jede Hauptlinie wird kursorisch dargestellt, mit der Quellen- und Indizienlage sowie der kleistschen Persönlichkeitsstruktur abgeglichen. Nirgendwo ergeben sich ausreichende Datenmengen, um den einen oder anderen Befund bestätigen zu können.

Doch gerade hat Hydra erneut ihr Haupt erhoben: Die bunte Illustrierte FOCUS hat der These Raum gegeben, Kleist habe womöglich ein System ersonnen, mit dem er gehofft habe, beim Glücksspiel großes Geld zu machen. Und im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (1997) vertritt ein dänischer Universitätsprofessor auf vierzig Seiten die These, Kleist habe sich in Würzburg einer magnetischen Behandlung unterzogen. Wir halten es dagegen mit Robert Gernhardt, der 1976 eine Bilderfolge gezeichnet und unser gesichertes Wissen in die schlichten Verse gekleidet hat: "Hier // verreist // Heinrich von Kleist // Bin verreist! / Heinrich v. Kleist".

Die Herausgeber der vorliegenden Briefausgabe sind – wie Gernhardt – von erfreulicher Diesseitigkeit. Skrupulös verwenden sie nur die gesicherten Erkenntnisse. Sie zeigen, wo sich Kleist bei seinen eigenen Briefen bedient hat, um einzelne Passagen in seine Dichtungen zu übernehmen. Sie verweisen auf den "Rollencharakter jeder Korrespondenz", der sich bei Kleist sehr schön zeigen läßt: Da stehen die "nur schwer erträgliche[n] Schulmeistereien", die die Briefe an Kleists Verlobte Wilhelmine von Zenge darstellen, neben den teils demutsvollen und demütigenden Amts- und Bettelbriefen an seine militärischen Vorgesetzten, seine Verleger und Förderer, da stehen die Dunkelmännerbriefe der Würzburger Reise neben den "unsägliche[n] Liebesbriefe[n]" mit den berüchtigten "Denkübungen" an seine Braut. Kleist war besessen davon, einen "Lebensplan" zu entwickeln, sich "eine Verfassung" zu geben, wie es Müller-Salget mit Thomas Manns Wort auszudrücken versteht. Doch die Intentionen sind häufig unklar oder wechseln im Laufe der Jahre ihre Gestalt. In seiner kursorischen Einführung arbeitet Müller-Salget die Diskrepanz zwischen Kleists höchsten Ansprüchen an sich selbst und seinen "Versagenserlebnissen" heraus. Er kommt auf Kleists latente Bisexualität ebenso zu sprechen wie auf zentrale Motivkomplexe des Œuvres.

Natürlich wirft die Edition auch Schlaglichter auf die Adressaten der Kleist-Briefe: Auf Wilhelmine von Zenge zum Beispiel, Kleists Verlobte der Jahre 1800 bis 1802, von der nur ein einziger Brief an Kleist erhalten ist, die aber für ihren späteren Mann, den Philosophen Wilhelm Traugott Krug, aufgeschrieben hat, wie Kleist sie "zum Ideal umschaffen" wollte. Die eigene Familie hat Kleists Genie nicht erkannt, und sie dürfte von manchem seiner Briefe befremdet, wenn nicht brüskiert gewesen sein.

Die lückenhafte Überlieferung der Briefe, Datierungsprobleme, geklärte und ungeklärte Verluste haben zu problematischen Zuordnungen geführt. Insbesondere die Reihenfolge der Briefe und damit ihr kontextueller Zusammenhang sind teilweise fraglich. Hier haben die beiden Herausgeber viel Mut und Eigensinn bewiesen und in einigen Fällen eine neue zeitliche Einordnung der Briefe vorgeschlagen. Sie haben des weiteren einige wenige briefäquivalente Dokumente mit aufgenommen, zum Beispiel die an Kleist gerichteten Kabinettsordres von Preußenkönig Friedrich Wilhelm. Das Hauptkorpus dieser Edition umfaßt 234 Briefe von und 22 Briefe an Kleist. Es ist damit die umfassendste, modernste und best-kommentierte Edition der Briefe Heinrich von Kleists überaupt.

Lutz Hagestedt

 

Die Ausgabe der Werke und Briefe im Deutschen Klassiker Verlag ist damit abgeschlossen:
Band 1: Dramen 1802 – 1807. Hg von Ilse-Marie Barth und Heinrich C. Seeba. Frankfurt/M. 1991. 1.016 Seiten.
Band 2: Dramen 1808 – 1811. Hg. von Ilse-Marie Barth und Heinrich C. Seeba. Frankfurt/M. 1987. 1.034 Seiten.
Band 3: Erzählungen / Anekdoten / Gedichte / Schriften. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990. 1.304 Seiten.
Band 4: Sämtliche Briefe. Hg. von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt/M. 1997. 1.280 Seiten.
Vier Bände in Kassette: 540 Mark. Leder: 960 Mark.
Studienausgabe der Bände 1 – 3 in Kassette: 148 Mark.

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