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Der Schriftsteller Helmut Krausser

Ein Portrait von Lutz Hagestedt

Helmut Krausser, geboren am 11. 7. 1964 in Esslingen am Neckar, wuchs in München-Schwabing und Germering auf. Nach dem Abitur 1985 arbeitete er u. a. als Nachtwächter, Opernkomparse, Zeitungswerber, Popsänger, Rundfunksprecher und Journalist. Von 1985 bis 1989 studierte er provinzalrömische Archäologie, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität München, führte sein Studium jedoch nicht zuende. 1985/86 lebte er halbasozial und wohnungslos quasi auf der Straße. Im Jugendsender "Pop Sunday" des Bayerischen Rundfunks (2. Hörfunkprogramm) konnte er zwischen 1983 und 1987 erste Kurzprosatexte publizieren. Einige dieser Texte wurden später - in überarbeiteter Form - im Prosaband "Spielgeld" publiziert. Bereits mit Anfang zwanzig beteiligte sich Krausser an "Sage und Schreibe", einem Autorenworkshop des Kulturreferates der Stadt München. 1989 bis 1991 lebte er zeitweise in Berlin. Im September 1991 heiratete er Beatrice Renauer, die in seinem Roman "Melodien" als Mitarbeiterin genannt wird. 1993 war er Teilnehmer des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Im Juni 1994 hielt er zwei "Vorlesungen zur Poetik" an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Theaterstück "Lederfresse" erfuhr in der Spielzeit 1994/95 insgesamt 17 Inszenierungen an in- und ausländischen Bühnen und dürfte damit eines der erfolgreichsten Debuts des jungen deutschen Theaters sein.

Helmut Krausser lebt in Gilching bei München.

Preise und Auszeichnungen: Literaturstipendium der Stadt München (1989). Tukan Preis für "Melodien" (1993).

Lutz Hagestedt         Helmut Krausser

"Liebe, Mythos, Tod - ich liebe es, das Große in unsere Zeit hineinzutragen." Der selbstbewußte Schriftsteller Helmut Krausser, der sich bereits in jungen Jahren ein umfangreiches Werk erschrieben hat, scheut weder große Themen noch große Gesten. Er beherrscht virtuos die unterschiedlichsten Stile und Sprechweisen, er bewegt sich in den Kleinformen des Erzählens ebenso sicher wie im Genre des postmodernen, erzählerisch komplexen und weit ausholenden Romans. Einige ausgewählte, stets wiederkehrende Leitmotive bestimmen sein Werk: Neben "Liebe, Mythos, Tod" sind dies der Selbstverlust der Person im Wahnsinn und die Dialektik des Schönen und des Schrecklichen, mit der Krausser auf die romantische Ästhetik ebenso wie auf die Decadence-Literatur der Moderne referiert.

Bereits die Sammlung "Spielgeld" (1990) dokumentiert Kraussers Vorliebe für die Nachtseiten der menschlichen Psyche, für Milieustudien an den unteren Rändern der Gesellschaft, für die Einteilung der Welt in >gesund< und >krank<, >normal< und >nicht-normal<, >sozial< und >nicht-sozial<, >Freund< und >Feind<, >Täter< und >Opfer<. Typen wie der Rentner Hamann, der die Nationalzeitung liest und seinen Hund zum Töten abgerichtet hat, sind willkommene Kontrastfiguren für die meist jugendlichen Erzähler, die das Leben mit einer gewissen Nonchalance angehen, die ehrgeizlos aber genußsüchtig sind und ein Modell der Selbstverwirklichung leben, das radikal anders dargestellt wird als im Diskurs der "Verständigungstexte" der siebziger und achtziger Jahre. Ihnen geht es weder um Verständigung noch um Selbsterfahrung, weder um Karriere noch um Politik. Man hat den Durchblick, aber kein politisches Programm. Seine Personen konstituieren sich durch Ablehnung der gängigen ideologischen Positionen - keine Idee ist darunter, für die es sich einzusetzen lohnte. Am wohlsten fühlt man sich noch in dezidiert antibürgerlichen Kreisen, in der Subkulturszene, in einem Pulk von Plebs und Punkern, Prolos und Pennern, aber man gibt sich immer elitär, als Einzelgänger: "Sicher - wir alle hielten uns für zornige junge Männer, Rebellen, wir alle standen gegen irgend etwas, doch hätten wir nie daran gedacht, mit mehr als unserem Witz für etwas einzustehen, unser Leben zu verplanen in einer zeichensetzenden Position, uns zu fesseln in nicht mehr zu ändernden, fatalen Typologien eines längst anrüchig gewordenen Rollentheaters." ("Wege des Brennens. Elektrische Herzen", in: "Zerstörung", S. 65f.) Kraussers Protagonisten, oftmals mit Daten seiner eigenen biographischen Realität ausgestattet, sind soziale Trittbrettfahrer in dieser besonderen Bedeutung des Wortes: Sie wollen weder einsteigen noch sich abhängen lassen; sie wollen beobachten und aus ihren Beobachtungen etwas herausholen; sie gehen niemals in den Milieus, in denen sie sich bewegen, vollends auf bzw. unter, sondern halten immer eine intellektuelle Distanz ein: "Wir (...) waren fraktionsübergreifende Existenzen, wußten uns nicht recht einzuordnen, gehörten mal dahin, mal dorthin." ("Durach", in: "Zerstörung", S. 129) Sie kommen durch Aushilfsjobs oder kleine Gaunereien zu Geld, um es gleich wieder zu verspielen, versuchen aus allem ihr bißchen Kapital zu schlagen, das sie zum Leben brauchen, ernähren sich anspruchslos von Weißwein und Butternudeln. Letztere sind finanziert durch ein paar Beiträge für den Funk, für den "Krausser" aus dem Osten Deutschlands berichten darf: "Mehr habe ich aus der Vereinigung nicht rausgeholt." ("Die Würde in der Auswahl der vorletzten Worte", in: "Zerstörung", S. 29) Sie haben Ziele und Leidenschaften, die dem endgültigen Absturz in die Abhängigkeit oder ins soziale Nichts entgegenstehen: "Ich winkte ab, sagte, daß ich noch fünf Kapitel meines dicken Romans schreiben müsse, und sie nannten mich ein dämliches Arschloch." ("Die Würde", S. 30) Nicht wenige Protagonisten Kraussers sind Schriftsteller, Poètes maudits.

Der Zynismus ist die weltanschauliche Haltung, die den >bürgerlichen< Normen und Verhaltensweisen entgegengebracht wird. Kraussers Helden haben "Lust auf die Straße", auf Alkohol und Ekstase, auf Musik und Sex. Sie wissen mit den trivialsten Erzeugnissen der Kulturindustrie ebenso selbstverständlich umzugehen wie mit den in unserer Kultur höchstbewerteten Kunstformen, vor allem der Musik, und hier wiederum speziell der Oper. Seinen meist männlichen Protagonisten kommt es allein auf den Genuß an, auf das Hör- oder Leseerlebnis, auf die gesteigerte Erfahrung des Rausches in der Musik oder im Alkohol, der Ekstase im Schach- oder Backgammonspiel, dem Kitzel der Spieltische und der Unterhaltungsmaschinen, und - natürlich - auf das Moment der Durcharbeitung und Wiederholung im Medium der Literatur. Denn vom gesteigerten Erleben, der besonderen Erfahrung, der privilegierten Kennerschaft und der überlegenen eigenen Auffassung wollen seine Helden auch Zeugnis ablegen; sie glauben, ihre Identität in Extrempositionen und in ihrer distinkten Antikonventionalität finden zu können, nämlich darin, daß sie im Spannungsfeld von Verfeinerung und Vergröberung, Einfachheit und Komplexität immer das Extrem wählen.

In der fragmentarischen Erzählung "Das Heiltum" (in: Spielgeld") entwirft Krausser eine apokalyptische Endzeitvision, in der es keine Zukunft mehr gibt: "Die Horoskopautomaten spuckten leere Zettel." Ungewöhnliche Dinge passieren, die jedoch - wie im Märchen - weder beim Erzähler noch bei den anderen Figuren (dem Bettler, der Kellnerin) Verwunderung auslösen: "Fette Trüffelschweine erwürgten im Garten das Eichhörnchen mit einer Perlenkette." Was hingegen in herkömmlicher Lesart als Realität gelten würde, wird als "Wunder" wahrgenommen, etwa als der Bettler sein Holzbein verliert. Analog dazu wird, wo im Regelfalle Erklärungsbedarf entstünde und nach dem Wesen und der Bedeutung des "Heiltums" zu fragen wäre, so getan, als sei keine Erklärung notwendig. Ähnlich verhält es sich bei der Erzählung "Iason" (in: "Spielgeld"), in der sich der Erzähler auf die Suche nach dem "goldenen Vlies" macht: "Jemand will wissen, was das sei, das Vlies? Ich weiß es ja nicht." Die Suche ist mehr eine Lebenshaltung als eine Handlungsweise. Ihr Ziel ist dementsprechend unspezifisch, es zu erreichen ist nicht wichtig, alles Zwanghafte ist zu vermeiden. Die Realitätswahrnehmung seiner Figuren ist eine andere, sie weicht ab von der Norm, reicht bis hin zum psychopathologischen Befund. Hagen Trinker, die Hauptfigur der nach ihm benannten Trilogie, nimmt nur einen Teil der eigenen Person wahr und realisiert nicht, daß er eine Art "Dr. Jekyll and Mr. Hyde"-Biographie lebt, daß er in seinem >anderen Leben< als Kindermörder "Herodes" agiert. Auch Johanser, der Protagonist des Romans "Thanatos" (1996), realisiert nicht, daß er eine schizophrene Persönlichkeit ausbildet, nachdem er seinen Cousin Benedikt getötet hat. Desgleichen tendiert der Protagonist des Theaterstücks "Lederfresse" dazu, die Grenze zwischen der künstlich-medialen Welt der Horrorvideos und der eigenen Realität zu verwischen. Hagen wie Johanser wie jener "Lederfressen"-Darsteller sind einander ähnliche Figuren mit einer Disposition zur mentalen Dissoziation.

Hagen Trinker in "Könige über dem Ozean" (1989) ist Backgammonspieler, ein Amateur mit profunden Kenntnissen. Er betreibt das Spiel bis zur Leidenschaft, bis zur Grenze des Selbstverlusts im Wahnsinn. Hagen hat einen krebskranken Freund, Richard. Dieser möchte sein letztes Jahr in der Sonne verbringen, und so beginnt für beide nach einem aberwitzigen "Fehlstart" (Eberhard Falcke) ein grotesker Passionsweg, der sie schließlich mit der Märchenfrau Lidia zusammenführt. Das Mittelmeer ist für Richard das letzte Reiseziel - er geht ins Wasser, schwimmt hinaus, immer der untergehenden Sonne entgegen.

Hagen, in "Fette Welt" (1992) erst 27, sieht sich die Dinge gern von unten an, erzählt von den vielen Jobs, die er hatte, unter anderem war er Statist an der Münchner Oper, ein Gralsritter im "Parsifal". Im letzten Teil der Trilogie lebt er, inzwischen obdachlos und Stadtstreicher geworden, bei einer "Familie" von Berbern. Er verliebt sich in die 16jährige Ausreißerin Judith, folgt ihr nach Berlin und muß sie doch für sich verloren geben, denn Hagen ist aus der bürgerlichen Welt herausgefallen und führt eine Gut/Böse- bzw. Opfer/Täter-Existenz mit pathogenen Merkmalen. Ein Bindeglied zu dem Roman "Melodien" (1993) ist die Welt der Oper, die dort zu einem tragenden Thema und Leitmotiv entwickelt wird.

Kraussers "Melodien" erzählen von der Macht der Musik als einem Mythos. Im Orpheus-Mythos und seiner Rezeptionsgeschichte sind bereits viele seiner Elemente erkennbar: Hier geht es um den Kampf der Geschlechter, die Knabenliebe, den Streit um den wahren Messias und - die Geschichte der Oper. Aus zwei Teilen besteht die tragische Geschichte des griechischen Sängerheros. Im ersten Teil gelingt es Orpheus, mit seinem machtvollen Gesang die Gemüter der Finsternis zu erweichen - doch dann verpatzt er die Befreiung Eurydikes aus der Unterwelt. Im zweiten Teil verflucht Orpheus, verzweifelt über das eigene Versagen, die Frauen und predigt fortan die Knabenliebe. Sein Frauenhaß wird von den Mänaden, den hysterischen Weibern des Dionysos, bitter gerächt. Sie zerfleischen die schöne Gestalt des Orpheus, eine Gestalt, die der frühchristlichen Malerei zum Vorbild ihrer Christusdarstellungen diente.

Helmut Kraussers "Melodien" hat eine Gegenwarts- und eine Vergangenheitshandlung. Die Hauptfigur der Gegenwartshandlung ist der junge Fotograf Alban Täubner. Mit Orpheus verbindet ihn, daß auch er die erotische Partnerin verloren hat. Alban fällt in einen Zustand dumpfer, interesseloser Apathie (daher der Name "Täubner"); er ist ein Tor vom Schlage Parsifals, wie Krausser in seinem Tagebuch "Mai" (1993) hervorhebt; auch die phantastische Geschichte der "Melodien" läßt ihn zunächst unbeeindruckt. Der Magier Castiglio, eine Hauptfigur der Vergangenheitshandlung, soll sie um 1530 entwickelt oder gefunden haben, 26 Achttakter, sogenannte Tropoi, wobei jedem Tropus eine bestimmte Funktion zugeordnet ist: wie man "eines Geizigen Faust lockert", wie man "weinlos trunken macht", wie man "in einem Menschen Liebe weckt" oder wie man "Wunden schneller heilen läßt". Diese Tropoi zu besitzen bedeutet Macht, aber man kann sie offenbar nicht exklusiv besitzen: Sie prägen die Welt als "Melodien", als Tropoi sind sie nicht erkennbar, greifbar, bestimmbar. In der dargestellten Welt des Romans wird der These, die Tropoi lebten in transformierter Form in den großen Werken der Musikliteratur weiter, einige Wahrscheinlichkeit zugestanden. Hier generiert Krausser einen neuen Mythos, der das Musik-Erleben seiner Primärrezipienten verändern dürfte und die magische Wirkung bedeutender Musik erklären könnte.

Natürlich ist diese bizarre Romanhandlung ironisch erzählt, was immer schon Distanz zur dargestellten Welt signalisiert, während der Rezipient noch geneigt ist, der unglaublichen Geschichte Glauben zu schenken. Kraussers Roman wäre in seiner postmodernen Mehrfachkodierung wohl nicht ohne die Impulse denkbar, die etwa von Umberto Ecos "Il nome della rosa" (1980; dt. 1982) oder Patrick Süskinds "Das Parfüm" (1985) ausgingen, von Texten also, die Fakten und Fiktionen amalgamieren, die als Wissenschafts-, Geschichts- oder Kriminalroman, als Sitten- und Kulturgeschichte, als Traktat und als intellektuelle Collage gelesen werden können, die von erkenntnistheoretischen und philosophischen Fragen handeln können, von Logik, Ästhetik, Ethik, Moral ebenso wie von Politik, Religion, Spiel, Psyche, Liebe, Erotik, Sexualität und - natürlich - vom Tod, dem "Generalbaß" in Kraussers Werk.

Docere et delectare heißt die Devise dieser großen Meta-Romane, die das Genre des historischen Romans bis in den Anmerkungsteil ironisieren. Alles in "Melodien" hat deshalb viele Wahrheiten: In der Gegenwartshandlung versuchen drei "Mythosophen" des Phantoms der orpheischen Melodien habhaft zu werden. Professor Krantz, ein Privatgelehrter, Dr. Nicole Dufrès, eine Psychohistorikerin, sowie ein gewisser Mendez, ein offenbar Geistesgestörter, der sich für einen Abgesandten Gottes hält. Jeder von ihnen erzählt Täubner seine eigene Version, was es mit den Tropoi auf sich habe, ein Kampf um die Macht der Darstellung entbrennt, und Täubner, der Teilnahmslose, wird zum bedingungslos Abhängigen und Hörigen. Er will die ganze Wahrheit in sich aufnehmen, aber jede Version ist so schnell und flüchtig wie Quecksilber, nicht haltbar und nicht faßbar: "Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter" hat Krausser sein Buch im Untertitel genannt. In dieser ausweglosen Situation ist Täubner bald nicht mehr bloß erzählte Figur, sondern Erzähler. Er identifiziert sich partiell mit den Figuren und wird zum "Zeitentaumler". Seine Wandlung wird mit jener des "weißen Bauern" im Schachspiel verglichen, der die letzte Reihe erreicht hat und nun als "Dame" weiterspielen darf. Er ist die Figur, die plötzlich Macht bekommt, aber immer Schachfigur bleiben und niemals die ontologische Schwelle zum Spieler überschreiten wird.

Die Geschichte der Tropoi, die der Roman eng mit der Entstehung der Oper verknüpft, ist mit dem gewaltsamen Tode Castiglios abgeschlossen; seine Ermordung wird als >Urszene< der Opernliteratur dargestellt. Nach wichtigen Zwischenstationen und Darstellungen monströser Viten des 15. und 16. Jahrhunderts betritt im Zeitalter des Barock der Kastrat und Komponist Marc Antonio Pasqualini (1614 - 1691) die Welt der Musik. Pasqualini ist eine besonders düstere Gestalt, die im Wettstreit der Stimmen den mörderischen Kampf der Geschlechter wiederauferstehen läßt. Pasqualini, der sich für die Stimme Gottes hält, für die Reinkarnation des Orpheus, den er weit über den christlichen Gott stellt, will den grausamen Tod, den die Mänaden Orpheus bereiteten, nicht minder grausam rächen. Die Mänaden, das sind für ihn die Frauenstimmen, die seit kurzem im Begriff stehen, die Musiktheater zu erobern. Er gründet einen Geheimorden, den "Ontu", dessen Ziel es ist, die Sängerinnen grauenvoll zu beseitigen.

Manches von dem, was Helmut Krausser erzählt, ist historisch verbürgt, das meiste reine Fiktion. Die Grenzen werden bewußt verwischt. Der Wahnsinn aus Leidenschaft ist sein großes Thema spätestens seit "Fette Welt". Im souveränen Umgang mit dem Stofflichen liegt seine Stärke. Mit der Gegenwarts- und der Vergangenheitshandlung alternieren auch die Stilmittel: fingierte historische Rede, Gegenwartsjargon, Altherrenprosa, Tagebuchfiktion, ironisch gebrochene Wissenschaftsprosa, Lyrisches und Essayistisches werden eingesetzt.

In "Thanatos" wird ein weiteres Generalthema der Werke Kraussers wieder aufgenommen, die Ich-Dissoziation des Helden. Johanser, der Protagonist des Romans, ist Anfang dreißig und Philologe in einem Berliner Institut für Romantikforschung. Dieser Johanser begreift sich als die Verkörperung des Todes selbst, er führt ein "schwarzes Buch" und ist, wie aus der Erzählsituation gefolgert werden muß, der Verfasser von "Thanatos". Der kauzige Handschriftenexperte unterhält zu Beginn seiner Erzählung ein leidenschaftliches Liebesverhältnis zu einer jungen und womöglich aidskranken Straßendirne, Somnambelle genannt. Dieses Verhältnis hat Johanser vermutlich dadurch beendet, daß er sie getötet hat. Sexus hat bei Krausser immer den Doppelaspekt von "Passion und Dämonie" (vgl. "Mai", S. 13). Johanser wird von seinem Institut auf die Straße gesetzt und fährt mit seiner Abfindung zu Verwandten aufs Land, auf die Schwäbische Alb. Er versucht, sich das Vertrauen seines Cousins, des 16jährigen Schülers Benedikt zu erwerben, an dessen Stelle er mehr und mehr zu treten sucht und den er eines Nachmittags tötet. Benedikts Eltern macht er glauben, daß ihr Sohn von Zuhause ausgerissen und in die Hauptstadt (Berlin) gefahren sei. Einerseits übernimmt Johanser die Rolle und Funktion Benedikts bei dessen Eltern, andererseits gibt er vor, Benedikt in Berlin suchen zu wollen. Die Ich-Dissoziation schreitet fort, Johanser beginnt, in zwei Personen zu denken und Selbstgespräche zu führen, deren zweiter Part vom imaginierten Benedikt bestritten wird. Benedikt wird mehr und mehr zur Obsession, zum Trauma. Johanser zeichnet in einer "schwarzen Kladde" immer neue Variationen des Erlebten auf, Versionen und Projektionen des Selbst und seines alter egos, die das Ich allmählich verschwinden lassen. Der Roman endet in Fragmenten - in der Manier der Romantik - mit der Rückkehr Johansers ins "Elternhaus". Nun hält er sich vollends für Benedikt bzw. für Thanatos, den Todestrieb.

Seit 1992 hat Helmut Krausser begonnen, jeweils in einem Monat eines Kalenderjahres Tagebuch zu führen. Diese Tagebücher, der "Mai" des Jahres 1992 (1993), der "Juni" des Jahres 1993 (1994), der "Juli" des Jahres 1994 (1996) sind aufschlußreich, weil Krausser hier zu Interpretationsfragen Stellung bezieht und Aussagen zu seinen Intentionen macht. Er kommentiert die Rezeption des eigenen Werks durch die Literaturkritik, vor allem im Tagebuch des Juni 1993, er berichtet von seiner Rezeption der Musik und Literatur, des Films und Spiels, der Kunst und Architektur. Im Tagebuch des Mai 1992 zum Beispiel besucht er mit seiner Frau die Schauplätze seines Romans "Melodien". Längere Passagen im Tagebuch des Juni 1993 sind dem Bewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis gewidmet. Diese Tagebücher sind Werkstattbericht und Kommentar, aber zugleich eine eigenständige Form, ein neuer Aspekt in Kraussers Werk.

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