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Von essenden Sängern und singenden Ochsen

Sprechsituationen bei Uwe Timm

Von Lutz Hagestedt

Mein Beitrag über Uwe Timm geht von der These aus, daß ein Teil der Bedeutung eines literarischen Textes in der sprachlichen Präsentation der Geschichte (histoire) liege, ein weiterer Teil darin, wie über diese Präsentation im Erzähl-discours reflektiert werde. Dies ist ein spannender Aspekt bei einem Autor, der in den siebziger Jahren maßgeblich daran beteiligt war, einen Neorealismus zu konzipieren, einen Realismus nicht im Sinne des Epochenbegriffs, sondern im Sinne eines ahistorischen Phänomens bestimmter Formen der Darstellung von Wirklichkeit. Am Beispiel von Uwe Timm, so meine weiterführende These, läßt sich nicht nur ein einzelnes Autoroeuvre beschreiben, sondern es läßt sich auch ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel beschreiben, der sich zwischen dem Ende der sechziger Jahre und dem Beginn der neunziger vollzogen hat. Die Zeit, in der Uwe Timm und andere die AutorenEdition im Bertelsmann Verlag gründen, die es sich zur Aufgabe stellt, "die gesellschaftlichen Probleme" in einer "realistische[n] Schreibweise"«FN~ Präambel der AutorenEdition. Zitiert nach "Heißer Sommer". München, Gütersloh, Wien 1974: S. 2. Uwe Timms Werke werden hier und im Folgenden nach den Erstausgaben zitiert.» zu thematisieren, ist die Zeit, in der Begriffe wie "Authentizität", "Originalton"/"Originaltext", "Dokumentar-literatur", "Literatur der Arbeitswelt" geprägt werden oder neu aufkommen und die Diskussion zu dominieren beginnen. Literatur wird daran gemessen, welchen sozialen Stellenwert sie haben und welchen Beitrag sie zur Bewältigung realer Probleme leisten kann. Damit ist zugleich auch ihr Darstellungsbereich abgesteckt: "die Realität selber ist das Thema der AutorenEdition".«FN~ Ebd.» Dieser gewissermaßen "naive" Realismus der Gruppe um Uwe Timm geht von der These aus, daß Realität objektiv erfahrbar und abbildbar sei und daß es für sie auch eine adäquate Darstellungsform - die "realistische Schreibweise" - gebe. Mit dieser Schreibweise und der gesellschaftsrelevanten Programmatik zielt die AutorenEdition auf "einen großen Leserkreis"«FN~ Ebd.» ab, sie will breite Schichten der Bevölkerung erreichen, um als Literatur konkrete Wirkung zu haben; "anschaulich und unterhaltsam" soll diese Literatur sein, was einerseits als Konzession an die Leser verstanden werden kann, andererseits als Absage an jenen anderen dominanten Zweig der zeitgenössischen Literatur gemeint ist, der - so die Meinung des "Redaktions-Komitees" der AutorenEdition - bloß die "Schreibschwierigkeit des Autors" thematisiere.«FN~ Ebd.» In dieser stark verkürzenden Argumentation wird eine Lust zur Polemik spürbar, die für die ganzen siebziger Jahre charakteristisch sein dürfte: experimentelle wird gegen konventionelle Poesie ausgespielt, hermetische gegen unterhaltende Literatur, L'art pour l'art gegen Neue Sensibilität, Narzismus gegen die Erben von Bitterfeld.

Der Realismus der Nachkriegszeit, der sich für relevanter und unterhaltsamer hält als die Literatur des Experiments, weicht in seinen konkreten Ergebnissen oft erheblich von der Programmatik ab, und es ist nicht so, daß nicht auch seine Autoren experimentieren würden. Uwe Timms Roman "Morenga" (1978) zum Beispiel enthält durchaus auch phantastische Elemente oder doch Unwahrscheinliches, das mit dem kruden Realismus-Konzept der AutorenEdition unvereinbar sein dürfte.«FN~ Vgl. die "Landeskunde"-Kapitel, in denen unter anderem erzählende Ochsen auftreten.» Dieser Roman ist offenkundig auch formal ambitioniert erzählt und "experimen-tiert" auf dem Gebiet der Tatsachenliteratur, die seit Mitte der sechziger Jahre durch die amerikanische "Faction"-Litera-tur Dignität bekommt, einer Literatur, der es darum geht, Fakten und Fiktionen in einem Text derart miteinander zu korrelieren, daß beide Seiten davon profitieren, daß einerseits der Realitätsbezug gewahrt bleibt, andererseits Literarität und Spannung erzeugt werden. Den "Faction"-Autoren geht es maßgeblich darum, im Medium der Literatur auch nach den psychischen/ psychologischen Ursachen des Faktischen zu fragen.«FN~ Ein Beispiel für diesen Typus wäre Truman Capotes Roman "In Cold Blood" (1965). Als bedeutender Prototyp jener Faction-Literatur gilt Herman Melvilles Roman "Moby-Dick" (1851) mit seiner spezifischen Korrelation von Romanhandlung und Kulturgeschichte des Walfangs. Von der Funktion der historischen Dokumente in "Morenga" (zwischen Faktentreue und Subversion) handelt Gunther Pakendorfs Aufsatz "Morenga oder Geschichte als Fiktion". In: Acta Germanica. 19 (1988) S. 144 - 158.» Folgt man diesen verschiedenen Spuren, so wird man, meine ich, erkennen, wie dicht Uwe Timm diesen Entwicklungen auf der Spur ist.

Der Roman "Morenga" signalisiert schon anhand seiner Sprechsituation, daß er sich an einem bestimmten Modell realitätshaltiger Literatur orientiert. Mit "Sprechsituation" meine ich alle expliziten und impliziten Daten zur textinternen Kommunikation; der Terminus soll hier der Oberbegriff für "Erzählsituation" einerseits und "Besprechsituation" andererseits sein. In der Erzählsituation dominieren die "Tempora der erzählten Welt" (Präteritum, Plusquamperfekt), in der Besprechsituation die "Tempora der besprochenen Welt" (Präsens, Perfekt).«FN~ Die Begriffe nach Harald Weinrich: "Tempus. Besprochene und erzählte Welt". Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz «SSHO»4«SSNO»1985. (Sprache und Literatur, 16).»

Das erste Kapitel von "Morenga" ist fast bruchlos im Modus des Besprechens erzählt: es wird erzählt, als ob besprochen würde. Mit dieser Erzählhaltung des Besprechens wird suggeriert, der Leser werde unmittelbar, direkt und ohne Zeitdifferenz am Geschehen beteiligt:

"Der Farmer tritt morgens aus seinem in der Nähe von Warmbad gelegenen Farmhaus, um die Eingeborenen wie gewöhnlich zur Arbeit einzuteilen. Kein Mensch ist zu sehen. Er geht zur Eingeborenenwerft hinüber. Alle Pontoks sind über Nacht abgebrochen worden. Ein Feuer glimmt noch. Plötzlich flattert hinter einer Gruppe von Weißdornbüschen ein Schwarm von Kronenkiebitzen auf. Kruse geht schnell ins Haus, verrammelt Tür und Fenster, nimmt das Gewehr von der Wand, lädt es und legt alle anderen Patronen griffbereit auf den Tisch." ("Morenga", 5)

Ein Filmprotokoll oder ein Nebentext im Drama könnten derart formuliert sein. Der Besprechtext soll den Eindruck vermitteln, hier werde etwas dokumentiert, das die volle Aufmerksamkeit des Rezipienten erfordere. Ein Spannungsbogen baut sich auf. Die Besprechsituation, die sich durch die Dominanz der Tempusgruppe Präsens/Perfekt konstituiert, hat in der Regel auch Ähnlichkeit mit einer Erörterung oder einer Interpretation.«FN~ Die Rezension wird auch deshalb "Besprechung" genannt, weil sie im Modus des Besprechens verfaßt wird.» Sie ist eine Sprechhaltung, die sich für die Darstellung komplexer Sachverhalte anbietet:

"Unmittelbar nach Ausbruch der Feindseligkeiten im Namaland erhält Gouverneur Oberst Leutwein von General Trotha den Befehl, die aufständischen Hottentotten anzugreifen und die eingeschlossenen Orte zu entsetzen. Leutwein ist Gouverneur und wäre somit General Trotha vorgesetzt, zugleich aber ist er nur Oberst und damit General Trotha untergeordnet, also befehlsgebunden. Eine schiefe Situation." ("Morenga", 31)

Im zweiten Kapitel des Romans dominiert fast bruchlos der Modus des Erzählens. Die Erzähltempora haben in der Regel die Funktion, etwas in der Vergangenheit Abgeschlossenes darzustellen. Durch die Tempusgruppe der erzählten Welt manifestiert sich eine bestimmte Sprechhaltung, das "entspannte Reden":

"Woran denken Sie, wenn Sie Gewürzinseln hören, hatte Gottschalk während der Überfahrt Wenstrup einmal gefragt. Der dachte einen Augenblick nach: ein nach innen gerichtetes Schmecken, dann sagt er: Glühwein". ("Morenga", 17)

Im dritten Kapitel dominiert wiederum die Besprechsituation, im vierten wieder die Erzählsituation usw. "Dominanz" bedeutet hier, daß auch in Kapiteln mit einer Besprechsituation erzählende Passagen vorkommen können und umgekehrt, aber doch eine Gewichtung jeweils eindeutig zu erkennen ist, wodurch die Texte "Relief" bekommen und in "Vordergrund" und "Hintergrund" gegliedert werden. Die Sprechsituation von "Morenga" ist also durch den stetigen kapitelweisen Wechsel von Besprechsituation und Erzählsituation charakterisiert. Dadurch entsteht der Eindruck des dokumentarischen Erzählens allein schon durch die Art und Weise der Verteilung der Tempora und der durch sie vermittelten Sprechhaltungen. Der diskursive Charakter des Romans, der in seinen Digressionen eine Menge kulturelles Wissen bereitstellt, manifestiert sich ferner in den Dokumenten (vor allem militärhistorischen Referenztexten) und Quasi-Dokumenten (fiktiven Tagebüchern, Briefen etc.), und einen Teil zu diesem Eindruck trägt auch die Anonymität der Sprechinstanz bei: in "Morenga" gibt es keinen identifizierbaren, personalisierbaren Sprecher, dem man den Gesamttext zuordnen könnte und der quasi aus seiner Perspektive die Ereignisse darstellen würde. Statt eines identifizierbaren Sprechers haben wir eine anonyme, nahezu omnipräsente und allwissende Sprechinstanz, die die Ereignisse teils direkt, teils aus den Quellen darstellt. Ihre Existenz muß aus logischen und pragmatischen Gründen angenommen werden.

Die Darstellung der Zeitorganisation trägt ein übriges zum dokumentarischen Erzählen in "Morenga" bei, denn in diesem Roman wird die histoire ausgesprochen detailliert an chronologischen Daten festgemacht. Jahr, Monat, Tag, nicht selten auch die genaue Tages- oder Uhrzeit werden quasi protokollarisch festgehalten, auch die Referenztexte werden hinsichtlich Erscheinungsort und Erscheinungsjahr identifiziert. Der Autor, der Uwe Timm der siebziger Jahre, ist offenkundig bemüht, sein Realismus-Konzept durch eine Erzählstrategie umzusetzen, die den literarischen Text zu einem beinahe dokumentarischen Text macht, von dem präsupponiert werden kann, er habe eine besonders enge Verbindung zur historischen Realität.

Der Uwe Timm der neunziger Jahre, der Autor des Romans "Kopfjäger" (1991), verfährt anders. Dieser Roman hat einen identifizierbaren Sprecher, den flüchtigen Wirtschaftskriminellen Peter Walter, der sich explizit (mit dem Deiktikon "Ich") als Erzähler des Textes zu erkennen gibt und der seinen Sprechakt sehr häufig explizit thematisiert. In "Morenga" hingegen gibt es eine solche Ebene der Selbstthematisierung nicht. Die Sprechsituation verweist nur indirekt auf sich selber, indem sie ein Neben- und Nacheinander verschiedener Texte, Textsorten und Erzählstränge präsentiert, die teils miteinander kompatibel sind, teils einander inhaltlich ausschließen oder miteinander konkurrieren. Aber selbst dort, wo das Realismuskonzept des Romans verletzt wird, etwa bei den erzählenden Ochsen, wird nicht der Erzähl-discours kommentiert, sondern eine Realitätsinkompatibilität innerhalb der dargestellten Welt:

"Was Gorth am meisten erstaunte, war später, daß es ihn gar nicht überrascht hatte, einen Ochsen reden zu hören. Er hatte lediglich seinen Schritt etwas verlangsamt und ging, damit der keuchende Rote Afrikaner nicht so laut sprechen mußte, schließlich neben ihm." ("Morenga", 125)

Die Zeitorganisation von "Kopfjäger" ist ebenfalls anders konzipiert als in "Morenga": die natürliche Ereignisfolge wird durch zahlreiche Umstellungen im Erzähl-discours verschleiert, es ist mühsam und bisweilen unmöglich, die einzelnen Ereignisse chronologisch richtig zuzuordnen; explizite Datierungen erfolgen relativ selten und wenn, dann relativ ungenau: Jahreszahlen und Jahreszeiten sind noch die häufigsten expliziten Datierungen, andere, genauere können nur selten per kulturellem Wissen erschlossen werden: Wenn zum Beispiel der Ich-Erzähler (im folgenden auch "Ego" genannt) die Menschen auf der Berliner Mauer tanzen sieht, dann hat er offenbar in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 seinen Fernseher eingeschaltet. Diese genaue Datierbarkeit ist aber die Ausnahme, sie hat für den Erzähl-discours von "Kopfjäger" einen geringeren Stellenwert als für "Morenga" und dürfte mit der Fiktion des mündlichen Erzählens zusammenhängen, die für "Kopfjäger" konstitutiv ist.

Diese lückenhafte und unchronologische Zeitorganisation läßt sich in Bild fassen, das als zeichenhaft für die Hauptfigur Peter Walter und sein Erzählen interpretiert werden muß, ich meine das Bild des "essenden Sängers". Bei dem "essenden Sänger", auch "Vogelmann" genannt, handelt es sich um eine Holzfigur von der Osterinsel, die ungefähr vierhundert Jahre alt ist; Holzart, Herkunft und Maserung des Holzes erlauben es, das Alter der Figur annähernd zu bestimmen, die ein Künstler der Osterinsel geschnitzt haben soll. Diese Figur fällt zu Boden und zerspringt "in tausend Stücke":

"Ich schob die Holzstückchen und Brösel vorsichtig auf ein Blatt Papier, das Wort >Leimen< ging mir durch den Kopf. Ich mußte lachen, ein verzweifeltes Lachen, und ich dachte: Wie grotesk der Vorgang des Leimens doch genaugenommen ist, dieser klägliche Versuch, etwas ungeschehen zu machen. Denn auch wenn man den Bruch nicht sieht [...], bleibt das Geleimte immer eine Täuschung." ("Kopfjäger", 17)

Nur ein Teil des Holzgrus kann zu einer Vogelmann-Figur "rekonstruiert" werden. Sie ist mit dem Original nicht mehr identisch, die Zeitringe des gewachsenen Holzes sind unvollständig und verschoben (vgl. "Kopfjäger", 17, 238, 349). Die Figur und ihre Umstrukturierung stehen für die Veränderungen, die mit jedem Versuch, die Realität zu rekonstruieren, verbunden sind. Da der Vogelmann als Alter ego des Erzählers konzipiert ist (vgl. "Kopfjäger", 11, 347f.), muß er als zeichenhaft für die Veränderungen gelesen werden, die beim Erzählen seiner Biographie vorgenommen werden. Ein Großteil dieser Veränderungen besteht in der Tilgung der präsupponierten Chronologie, von der Uwe Timm glaubt, daß sie der mündlichen Rede (dem "Alltagserzählen") näher sei (vgl. "Erzählen", Kap. 4).

Der "essende Sänger" ist ein gutes Bild dafür, daß es der Literatur weder um Abbildung noch um Rekonstruktion von Realität gehen kann, sondern nur um eine Konzeption, in der alles erlaubt ist - frei nach "Heißer Sommer":

"Du verdrehst alles, wie es dir gerade paßt." (21)

Die Konzeption von "Literatur" als dem Ergebnis einer Selektion, Kombination und Interpretation von Daten ist einer der Gründe dafür, weshalb Peter Walter um "seine" Biographie besorgt sein muß. Denn je nachdem, wer seine Geschichte erzählt und welchen Intentionen er dabei folgt, wird Ego letztlich als gewissenloser Krimineller dastehen oder aber als Person, die für die Kostproben ihres bemerkenswerten Erzähltalents lediglich einen zu hohen Preis gefordert hat. Peter Walter will seine eigene Geschichte selber erzählen, weil er der Auffassung ist, daß nur er die wahren Beweggründe seines Handelns kennt. Zudem muß er befürchten, daß sich noch jemand anderes für seine Geschichte interessiert, nämlich sein Onkel, der von Beruf Schriftsteller ist und als "Alp", "Vampir" oder "Zeck" (vgl. "Kopfjäger", 55, 175, 201, 265, 292, 408) dargestellt wird:

"Wenn der über mich schreibt, dann bin ich ein anderer: lächerlich, skrupellos, geldgierig oder verschlagen. Die meisten Autoren schreiben über sich oder über irgendwelche Leute, die es nie gegeben hat, ausgedachte, erfundene Leute, der Onkel aber schreibt über Familienmitglieder, plündert sie regelrecht aus." ("Kopfjäger", 18)

Zwischen Ego und seinem Onkel Sonny besteht eine Erzählrivalität, die, würde der Onkel im Kampf um die Darstellung obsiegen, die Biographie des Neffen verändern würde. Die Möglichkeit einer Rivalität zwischen zwei unterschiedlich kompetenten Erzählinstanzen impliziert demnach die Möglichkeit (minde-stens) zweier verschiedener Darstellungen von Realität. Der Text führt dies auch textintern vor, indem er den Onkel dabei zeigt, wie er sich verschiedene Fassungen von Alltagsgeschichten erarbeitet (vgl. "Kopfjäger", 55ff.). Ego demonstriert auch mehrfach, was dabei herauskäme, wenn er die Erzählstrategie des Onkels und seine klischeehaft-vergröbernde Realitätskonzeption imitierte, indem er so erzählt, wie der Onkel vermutlich erzählen würde (vgl. "Kopfjäger", 201-203). Es gibt hier also keine objektive, quasi dokumentierende Erzählinstanz, sondern eine von vornherein subjektive, perspektivierte Figurenrede, die ihre Sicht der Dinge zur Geltung bringt:

"Kommt ja nicht darauf an, daß Geschichten wahr sind, sie müssen nur stimmen, also in sich stimmig sein. Sozusagen notwendig." ("Kopfjäger", 143)

Die Erzählrivalität zwischen Onkel und Neffe ist ein wichtiges Moment der Erzählfiktion. Im folgenden soll auf die Relation eingegangen werden, die zwischen beiden Figuren besteht. Sie ist vor allem als Teil der komplexen Verwandtschaftsverhältnisse zu interpretieren, auf deren Darstellung im Text großen Wert gelegt wird, wobei auffällt, daß ein Teil dieser verwandtschaftlichen Beziehungen ungeklärt bleibt. Aber auch diese Leerstellen (Nullpositionen) im System der Verwandtschaft sind interpretierbar und werden interpretiert, so daß der Raum der Familie ein wichtiges Erzählreservoir darstellt.

Die Urgroßeltern von Ego haben im Hamburger Steinweg gewohnt, der Urgroßvater war Schmied. Aus dieser Generation gehen zwei Kinder hervor, die Geschwister Hans und Hilde. Letztere ist die Großmutter von Ego. Sie heiratet einen Postamtmann und hat eine Tochter mit ihm, die Mutter von Ego. Hans, Großmutter Hildes Bruder, hat einen Sohn, der mit Egos Onkel Sonny identisch ist. Da er sehr spät geboren wurde, ist der Onkel nur vier Jahre älter als sein Neffe, was zur Folge hat, daß sie miteinander aufwachsen. Während Sonnys Eltern in einer wohlhabenden Gegend Hamburgs leben, ist Ego in der schlechten Hafengegend zuhause, wo die Nähe zum Kiez spürbar ist. Er pendelt zwischen der Wohnung der Mutter und der Wohnung der Großmutter (am Großen Trampgang/Ecke Brüderstraße) und ist ein sogenanntes "Schlüsselkind". Begleiterscheinung des sozialen Milieus ist etwa die Gelegenheitsprostitution von Frau Clausen, einer Nachbarin der Großmutter. Während die verwandtschaftlichen Relationen auf der Seite von Sonnys Herkunftsfamilie keinerlei Besonderheiten aufweisen, während die Eppendorfer Wohngegend einen satten und reichen, aber statischen und ereignislosen sozialen Raum darstellt, in dem nichts passiert, in dem die Figuren ein reduziertes Leben führen, ein Leben, das keine Geschichten zu bieten hat, bietet die Nähe zum Kiez und zum Hafen den Bewohnern am Großen Trampgang ein ereignishaftes, abwechslungsreiches, intensives Leben voller Geschichten. Ego ist durch seine Großmutter Hilde in diese Verhältnisse hineingekommen. Hilde, ursprünglich mit einem Postamtmann verheiratet, hat die "Last der Langeweile" ("Kopfjäger", 88) im gutbürgerlichen Milieu nicht mehr ertragen und ist mit dem arbeitslosen Schiffskoch Heinz in die Brüderstraße gezogen. Hier wächst Egos Mutter auf, und eine der offensichtlich zahlreichen Männerbekanntschaften der Mutter führt dann zur Erzeugung von Ego:

"Denn ich weiß, ich bin ein Zufallstreffer". ("Kopfjäger", 25)

Charakteristisch für Egos Individuation ist nun, daß ihm sein leiblicher Vater unbekannt bleibt, daß er zwar eine Reihe von Stief-, Ersatz- und Übergangsvätern kennenlernt, aber niemals mit Gewißheit sagen kann, ob der leibliche Vater unter ihnen ist. Dieser Vaterlosigkeit wird im Text eine Funktion für das Erzählen zugeordnet, insofern die Suche nach dem Vater als Initiation des Erzählers interpretiert wird: "Am Anfang allen Erzählens" stehe "die Vergewisserung des Erzeugers, des Vaters. Woher man kommt, wohin man geht." ("Kopfjäger", 413)

Somit ließe sich "Kopfjäger" auch als späte Variante der sogenannten "Väterliteratur" lesen, die Anfang der siebziger Jahre im deutschsprachigen Raum aufgekommen ist.«FN~ Vgl. Thomas Koebner: "Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur". Stuttgart «SSHO»2«SSNO»1984. (Kröners Taschenausgabe, 405). S. 236ff.» In dieser Literatur wird, im Gegensatz zu "Kopfjäger", sehr stark autobiographisch erzählt, und hier ist der Vater dem autobiographischen Erzähler in der Regel auch bekannt. Dies ist bei Uwe Timm nicht der Fall. In "Kopfjäger" wird offensichtlich von einer mit ihrem Autor nicht identischen und ihm auch nicht sehr ähnlichen Figur erzählt, die sich ihren Vater nur "erfinden" kann, weil sie gar nichts von ihm weiß:

"Eine Frage, die sich nicht durch Anschauung beantworten läßt, eine Frage, die den Diskurs in Gang bringt." ("Kopfjäger", 413)

Obgleich "Kopfjäger" nicht autobiographisch in dem Sinne ist, daß man sagen könnte, hier werde mit der Fiktion operiert, daß der Autor und sein Held identisch seien, hat Uwe Timm seinen Protagonisten doch auch mit einigen Daten seiner eigenen biographischen Realität ausgestattet. Da er dies im übrigen auch noch bei einer zweiten Figur, dem Onkel Sonny getan hat, ergibt sich hier eine sehr interessante Konstellation, die offenbar eine andere Erzählstrategie verfolgt als die erwähnte Väterliteratur. Im folgenden vergleiche ich, um eine These für diese Strategie anzubieten, die Merkmale der drei Größen Uwe Timm, Onkel Sonny und Neffe Peter Walter.

Sonny und Ego sind durch Relationen der Ähnlichkeit und der Differenz aufeinander bezogen:

"Seit ich mich erinnern kann, spricht meine Mutter über den Onkel immer so, daß ich mich fragen muß, warum ich nicht der Onkel bin." ("Kopfjäger", 13)

Es besteht zwischen ihnen eine generationenübergreifende Verwandtschaft, wobei diese Relation von Onkel und Neffe durch die Situierung auf derselben Altersstufe praktisch nivelliert wird. Die Altersdifferenz von vier Jahren läßt diese Nomenklatur der Familie, die nur die Art der Verwandtschaft benennt, aber ihre individuelle Besonderheit sprachlich nicht abbilden kann, als absurd erscheinen, was im übrigen vom Erzähler auch selber thematisiert wird:

"Wer sich mit Ethnologie beschäftigt hat, weiß, wie unterschiedlich die Verwandtschaftsverhältnisse in den verschiedenen Völkern ausgeprägt sind, wie reich und kompliziert in anderen Kulturen, bei uns hingegen erbärmlich arm, was sich daran zeigt, daß die Verwandtschaftsgrade sich sprachlich nur undifferenziert ausdrücken lassen." ("Kopfjäger", 91)

Um die Verwandtschaft von Sonny und Ego auszudrücken, genügen die Bezeichnungen "Onkel" und "Neffe" im Grunde nicht. Denn primär wäre diese Relation eine Teilstruktur des sogenannten "Verwandtschaftsatoms", das "aus einem Gatten, einer Gattin, einem Kind und einem Repräsentanten der Gruppe [besteht], aus welcher der eine die andere empfangen hat."«FN~ Definition von Claude Lévi-Strauss. Zitiert nach Michael Oppitz: "Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie". Frankfurt/Main «SSHO»2«SSNO»1993. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 101). S. 110.» Es sähe schematisiert folgendermaßen aus:

0

(Onkel)

(Neffe)

Uwe Timm konzipiert eine komplexere Struktur, in der der Onkel nicht der Bruder der Mutter ist und auch nicht der Bruder der Großmutter,«FN~ Dies wäre ein "um eine Generation nach oben verschobene[r] maternale[r] Onkel" (vgl. ebd., 123).» sondern Egos Onkel ist der Cousin seiner Mutter, genauer ein Sohn ihres Onkels mütterlicherseits. Als Cousin der Mutter wäre der Onkel eigentlich ihrer Generation zuzuordnen, er wird aber infolge seiner späten Geburt in die nächste Generation ("nach unten") verschoben und gehört in die Altersklasse von Ego, was schematisiert folgendermaßen aussieht:

Hans        Hilde

Mutter

Sonny        Ego

Eine Überlegung, die sich an diese bemerkenswerte Konstellation anschließen müßte, wäre die folgende: Angenommen, der Onkel würde der Altersklasse der Mutter angehören, dann wäre er in der dargestellten Konstellation der einzige konstante männliche Vertreter der Elterngeneration und somit für den Neffen ein Vateräquivalent. So scheint es Ego auch zu sehen:

"Ich habe ihn [scil. den Onkel] vermißt, damals, weit mehr als meine Väter". ("Kopfjäger", 415)

In matrilinearen Gesellschaften würde der Onkel vermutlich - anstelle des fehlenden Mutterbruders - die rechtliche Autorität über den Neffen ausüben, und eine matrilineare Dominanz ist hier ja faktisch gegeben, insofern Erziehung und Sorgerecht für Ego bei der Mutter bzw. der Großmutter liegen, er ansonsten aber "vaterlos" ("Kopfjäger", 82) ist. Anstelle eines leiblichen Vaters gibt es in der dargestellten Welt nur Vater-Substitute, sprich wechselnde Männerbekanntschaften der Mutter, deren "Vaterrolle" sich darauf beschränkt, Ego auszusperren ("Kopfjäger", 24, 42), eine Funktion, deren negatives Korrelat die Einsperrung ist, das Gefängnis, die ausweglose Insel, auf die sich Ego am Ende seiner Flucht begeben wird. Die Vaterlosigkeit ist das Besondere in der Herkunftsordnung des Protagonisten Peter Walter. Diese Nullposition ist das eigentlich Interessante, sie soll durch Phantasie aufgefüllt werden und stellt den primären Imaginationsraum der beiden Erzählerfiguren Onkel und Neffe dar. Da ein wirklicher Vater fehlt, wird er von den beiden Vertretern der Kindergeneration erfunden. In der Vatersuche erfolgt ihre Initiation als Erzähler.

Neben der Verwandtschaft im Wortsinne gibt es auch eine im übertragenen Sinne: Der Onkel sammelt Material über den Neffen und möchte über ihn schreiben (vgl. "Kopfjäger", 15), der Neffe will ihm zuvor kommen und seine eigene Geschichte selber erzählen. Ihre schriftstellerische Ambition teilen sie beide mit dem textexternen Autor. Onkel Sonny ist zur Zeit des Erzählaktes (1989) "an die Fünfzig" ("Kopfjäger", 30), also wie Uwe Timm circa 1940 geboren. Er ist Schriftsteller und reist - wie Uwe Timm - "auf Steuerkosten durch die weite Welt" ("Kopfjäger", 14). Es wäre wohl illegitim, von diesen wenigen Merkmalen aus auf einen autobiographischen Konnex der Figur Sonnys zu schließen und zu behaupten, Uwe Timm wolle in Sonny "wiedererkannt" werden, wäre da nicht das folgende Zitat, das belegt, daß hier durchaus mit Absicht Merkmale vom Autor auf die Figur übertragen werden:

"Der Onkel ist unverbesserlich, weil ihm die Dinge nicht gleichgültig sind, er will sie anders haben, er will die Welt verändern [...]. Er müßte sich einfach zurücklehnen und die Dinge auf sich zukommen lassen. Wie diese Diskette, die in einen kleinen Briefumschlag paßt und die ich [scil. Ego] ihm als gute Fee schicken werde, geschenkt, unter dieser märchenhaften Bedingung: Er gibt dafür seinen Namen, darf aber nichts, nicht ein einziges Wort ändern." ("Kopfjäger", 432f.)

Gesetzt den Fall, dies würde der Realität entsprechen, dann würde der Onkel zur Identität mit Uwe Timm neigen, denn unter seinem Namen ist "Kopfjäger" erschienen, ein Roman, von dem textintern behauptet wird, daß seine Kapitel Computerdateien und in einen Laptop eingespeist seien ("Kopfjäger", 9f., 19, 420, 432f.). Per kulturellem Wissen wäre inzwischen ein weiterer Indikator dafür gegeben, daß der Autor mit seinen Figuren identifiziert werden wolle, nämlich durch Uwe Timms Erzählung "Die Entdeckung der Currywurst" (1993), in der die Person der Lena Brücker wiederaufgenommen wird, von der es im "Kopfjäger" heißt:

"Frau Brücker wohnte [...] in der obersten Etage, die sie aber nie bei Licht erreichen konnte, was dann einmal dazu beitragen sollte, daß die Currywurst erfunden wurde, denn sie, Frau Brücker ist die Erfinderin der Currywurst. (Ich weiß, der Onkel ist hinter dieser Geschichte her, aber nach dem Tod von Frau Brücker kenne nur ich, Hagen, sie.)" ("Kopfjäger", 49f.)

Wenn nur der Erzähler (scil. Peter Walter) die Geschichte kennt, sie aber unter Uwe Timms Namen erschienen ist, dann wäre diesmal nicht eine Identität von "Onkel" und Autor, sondern von "Neffe" und Autor anzunehmen. Aber auch auf den "Onkel" würde implizit referiert, da Uwe Timm "Die Entdeckung der Currywurst" seinem Vater Hans Timm zugeeignet hat, und wir aus dem "Kopfjäger" wissen, daß auch Sonnys Vater den Vornamen Hans getragen hat ("Kopfjäger", 89). Es fragt sich, welche Erzählstrategie damit verknüpft sein könnte, wenn ein Autor verschiedene, als partiell gegensätzlich konzipierte Figuren mit Daten seiner eigenen biographischen Realität ausstattet.«FN~ Weitere gemeinsame Merkmale würden sich leicht finden lassen: Der Onkel schreibt Prosa und hat - wie offenbar auch Timm - eine Rechtschreibschwäche; beide haben eine "blonde[] Frau" und Kinder; beide sind in Hamburg aufgewachsen, von ihren Vätern streng erzogen worden und haben eine Kürschnerlehre angetreten (vgl. "Erzählen", 11, 40, 96; "Kopfjäger", 14, 57, 76, 158f., 175).»

Eine der Funktionen der Sprechsituation ist es offenbar, ein Vexierspiel mit der Einbeziehung biographischer Merkmale des Autors zu treiben, ein Vexierspiel, das vielfältige, einander ausschließende Identifikationsangebote bezüglich textexternem Autor und textinternen Figuren macht. Zwei Figuren, Onkel und Neffe, werden besonders reich mit Merkmalen Uwe Timms ausgestattet und sind auch - der Fiktion zufolge - untereinander verwandt. Beide tragen aber nur einen Teil der Merkmale ihres Autors, nur eine Vereinigungsmenge dieser Merkmale könnte ihm optimal ähnlich sein, hingegen aber tragen beide Figuren auch andere Merkmale, die mit denen des Autors unvereinbar sind, so daß hier biographische und nicht-biographische Elemente miteinander korreliert werden. Der Text macht also Identifizierungsangebote, um sie sofort wieder zurückzuziehen - die faktische Lebenswelt des Autors geht in der fiktiven seines Textes nicht auf. Aber er kann sich in seinen Figuren quasi spiegeln und dabei deutlich machen, daß der Texttyp der Biographie nichts anderes ist als das Ergebnis einer Erzählstrategie. Im Unterschied zur traditionellen Autobiographie aber müssen die Indizien, die vom literarischen Text auf den Autor verweisen könnten, aus dem kulturellen Wissen genommen werden, sie kommen nicht aus der Textstruktur. Für den Autor Uwe Timm hat dies den Vorteil, daß er über einzelne Aspekte der eigenen Person sprechen und diese einer Wertung unterziehen kann, ohne sich bei jener narzistischen Innerlichkeitsliteratur der siebziger und achtziger Jahre aufzuhalten, die er gleichwohl präsupponiert und auf, wie ich meine, intelligente Weise transformiert.«FN~ Vgl. Hermann Schlösser: "Subjektivität und Autobiographie". In: "Gegenwartsliteratur seit 1968". Hg. Klaus Briegleb, Sigrid Weigel. München, Wien 1992. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12). S. 404ff.» Er nutzt hier die Möglichkeit erzählerischer Distanz, Aspekte der eigenen Person zu diskutieren.

Am Beispiel seiner Figuren entwickelt Uwe Timm eine Alltagsmythologie der Entstehung des Erzählens. Neffe und Onkel haben ihre Erzählergabe in ihrer Kindheit erworben, in der Küche von Großmutter Hilde. Im "Kopfjäger" sind zwei privilegierte Erzählräume auszumachen: die Küche und der Gerichtssaal. In der Küche ist das Erzählen mit dem Kochen (bzw. Essen) korreliert, zu beidem benötigt man die richtigen Zutaten. Man nehme

"ein[en] Bootsmann der Marine, ein silbernes Reiterabzeichen, zweihundert Fehfelle, zwölf Festmeter Holz, eine whiskytrinkende Wurstfabrikantin, ein[en] englischen Intendanturrat und eine englische rotblonde Schönheit, drei Ketchupflaschen, Chloroform, mein[en] Vater, ein[en] Lachtraum und vieles mehr" ("Currywurst", 19f.)

und erhalte "Die Entdeckung der Currywurst" (1993). In der Küche von Großmutter Hilde erfahren Ego und sein Onkel von den besonders interessanten Geschichten ihrer Lebenswelt, vom Amateurstrich und Dingen, die eigentlich nicht für Kinderohren bestimmt sind:

"Das hörten wir, der Onkel und ich, ich, der als zu klein galt, um zu verstehen, wovon geredet wurde, und der Onkel, den man einfach vergaß, weil er in einer Ecke der Küche saß, so tat, als sei er nicht da, und ganz im Zuhören verschwand." ("Kopfjäger", 50)

Der Küchen- als Erzählraum gehört in die Mythologie der Volksliteratur, deren Teilklasse der Hausmärchen am "Küchenherd" erzählt worden sein soll.«FN~ Vgl. "Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837)". Hg. Heinz Rölleke. Frankfurt/Main 1985. (Bibliothek deutscher Klassiker, 5). S. 12 (Vorrede).» Hier sind es vor allem Frauenfiguren, die die Geschichten tradieren. Die mündliche, nicht-artifizielle Erzählung wird traditionell eher der Frau, die schriftlich fixierte künstlerische Erzählung eher dem Mann zugeordnet, was auch für den "Kopfjäger" zuzutreffen scheint, denn sobald die Geschichten in den "Besitz" eines männlichen Erzählers kommen, werden sie verändert: aus dem kunstlosen mündlichen Sprechakt der Frau, die einen individuellen Fall berichtet, macht der männliche Erzähler einen literarischen Erzähltext, er beginnt, die Geschichten in Form "ganze[r] Romane" ("Kopfjäger", 57) wiederzugeben und sie später als Schriftsteller zu vermarkten. Der ursprünglichste Erzählraum ist jedoch die Küche:

"Denke ich an die Küche, ist sie erfüllt von blauem Dunst und den Erzählungen." ("Kopfjäger", 48)

"Blauer Dunst" gehört bekanntlich zum Handwerkszeug des Gauklers, er soll die Illusion perfekt machen, das Fingierte verbergen, und er liefert hier außerdem eine Metapher für den Erzählraum Küche, in dem sich Reales und Imaginäres vermengen und sich eine eigene Ästhetik, die "Ästhetik der Alltagsküche" ("Kopfjäger", 352), herausbildet.

Die erwähnte Geschlechterdifferenz scheint, bezogen auf die beiden Erzählerfiguren in der "Entdeckung der Currywurst" einer Korrektur zu bedürfen, insofern hier von einer weiblichen Erzählerin (Lena Brücker) sehr artifiziell erzählt wird. Aber diese Kunstfigur ist wiederum auch das Produkt eines männlichen Erzählers, der sich in der Variablen "Ich" manifestiert und der - laut Fiktion - den Erzählakt der Lena Brücker nachträglich reorganisiert:

"Ich lasse die Geschichte am 29. April 1945, an einem Sonntag beginnen." ("Currywurst", 20)

Der Ich-Erzähler ist Initiator und gleichzeitig auch ranghöchster Sprecher in dieser "Novelle", und er ist es, der Lena Brücker aufsucht und zu ihrem produktiven Sprechakt verleitet. Auch zwischen ihm und der Erzählerin bildet sich eine Rivalität bzw. ein Interessenskonflikt heraus, insofern der Erzähler von Lena nur die Geschichte der Currywurst erfahren, im übrigen aber anderen Intentionen folgen möchte, wohingegen Lena ihn geradezu zwingt, ihrer weitläufigen, umständlichen Erzählung zu folgen. Hierin gleicht sie der Scheherezade in "Tau-sendundeine Nacht" und ihr Adressat dem König Schehrijar:

"Siebenmal fuhr ich nach Harburg, sieben Nachmittage der Geruch nach Bohnerwachs, Lysol und altem Talg, siebenmal half ich ihr, die sich langsam in den Abend ziehenden Nachmittage zu verkürzen. [...] Siebenmal Torte, siebenmal schwere süßmassive Keile: Prinzregenten, Sacher, Mandarinensahne, Käsesahne, siebenmal brachte ein freundlicher Zivildienstleistender namens Hugo rosafarbene Pillen gegen zu hohen Blutdruck, siebenmal übte ich mich in Geduld, sah sie stricken, schnell und gleichmäßig klapperten die Nadeln." ("Currywurst", 19)

Die Torte als oraler Stimulant scheint dabei die Funktion zu erfüllen, der Erzählerin eine Zeit intensiven Lebens zu vergegenwärtigen, "Erinnerungs-Geschmack" ("Currywurst", 42) zu wecken. Lena drängt dem Ich-Erzähler eine Geschichte auf, in der die Currywurst eine nachgeordnete Rolle spielt; ihr geht es eigentlich um das Wiederholen und damit erneute Durchleben einer ganz anderen Geschichte, die wiederum den männlichen Erzähler nicht interessiert - zunächst jedenfalls nicht. Auch Lena erzählt in der Ich-Form, ihre Rede ist stark dialektal eingefärbt. Neben den beiden Ich-Erzählern ist zusätzlich noch eine Er-Erzählung zu verzeichnen, die aus Gründen der Textökonomie als Funktion des Ich-Erzählers zu werten ist, der hier offenbar die mündliche Rede der Lena Brücker zu einem eigenen Erzählstrang reorganisiert und damit endgültig zu seiner eigenen Geschichte macht.

Hinter der weiblichen Erzähler-Figur der Lena Brücker scheint sich der griechische Mythos der "Moira" zu verbergen, bzw. die Trinität der Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos. Die Grundbedeutung von Moira ist "Teil, Portion, Anteil", im Plural (Moirai) bezeichnet es "die Stücke vom Fleisch", womit der Text einen engen inhaltlichen Konnex zur Currywurst herstellen würde.«FN~ "Die Stücke vom Fleisch", nach Homer, "Odyssee" (15, 260). Vgl. dazu den Artikel "Moira" in "Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden". Hg. Konrad Ziegler, Walther Sontheimer. München 1979. Bd. 3, Sp. 1391 - 1396.» Diese Überlegung ist auch dadurch motiviert, daß der Text explizit auf die griechische Mythologie referiert«FN~ Nämlich mit der Konstruktion der Homologie Bremer : Brücker :: Odysseus : Kirke. Der Name der Kirke ergibt sich aus dem Kreuzworträtsel, das der Ich-Erzähler gegen Ende der "Novelle" zu lösen hat. Vgl. "Currywurst", 101f., 115, 165, 221; Ovid, "Metamorphosen" (14, 248ff.).» und außerdem den Realitätsstatus der Erzählerin offen läßt:

"Ich habe sie nicht wiedererkannt. Ihr Haar war, schon als ich sie zuletzt gesehen hatte, grau, aber jetzt war es dünn geworden, ihre Nase schien gewachsen zu sein, auch das Kinn. Das früher leuchtende Blau ihrer Augen war milchig. Allerdings waren ihre Fingergelenke nicht mehr geschwollen. [...] Die Gicht ist weg, dafür kann ich nix mehr sehen." ("Currywurst", 17)

Die blinde, strickende Seherin, die im Hamburger Platt von der "Entdeckung der Currywurst" erzählt, ist also bezüglich ihres Realitätsstatus ungeklärt. Und es muß danach gefragt werden, welche Funktion es für einen der Realität verpflichteten Autor haben kann, vom Realitätspostulat seiner Texte abweichende mythologische Größen einzuführen. In "Kopfjäger" wird dies noch exzessiver praktiziert als in der "Entdeckung der Currywurst": hier wird auf zahlreiche Figuren aus mythologischen Räumen referiert, auf den Fischer un sine Fru, auf Rumpelstilzchen, das bucklicht Männlein, Robin Hood, Ritter Ivanhoe, die gute Fee, Hase und Igel, den Froschkönig, Hagen aus der Nibelungensage und diverse andere.«FN~ Vgl. "Kopfjäger", 33 - 35, 50, 52, 55, 70f., 80, 217, 221, 288, 291, 324 und passim.» Realität wird offenbar, sobald sie erzählt wird, in Analogie zu bereits bestehenden Modellen gesetzt, die die bedeutungslose Wirklichkeit in bedeutungs-tragende fiktive Welten überführen.

Der zweite privilegierte Erzählraum in "Kopfjäger" ist der Gerichtssaal. Hier soll zwischen "wahr" und "nicht ganz wahr, also geschwindelt" ("Erzählen", 62), unterschieden werden, hier erhält jene Gratwanderung zwischen Rhetorik und Sophistik, die Ego und sein Umfeld praktizieren, ihr geistesgeschichtliches Relief. Der Gerichtssaal ist insofern privilegiert, als in ihn verschiedene Erzählstränge unterschiedlicher Provenienz einmünden: die früheren Arbeitgeber und Ausbilder Peter Walters, die Broker und Anleger, die Vertreter der Anklage und die Geschädigten - sie alle tragen zur Biographie des Protagonisten bei, die nichts per se Gegebenes ist, sondern das Ergebnis von Erzählstrategien, unter anderem der Verteidigung von Dr. Blank:

"Aufgewachsen im Großen Trampgang. Da müssen wir ansetzen, hatte Dr. Blank gesagt, das muß unsere Generallinie sein." ("Kopfjäger", 82)

Der Anwalt will sich das Leben seines Mandanten zurechtlegen und setzt auf die Stimmigkeit seiner biographischen Montagetechnik. Sein Berufsstand zeigt hier vielleicht am deutlichsten, daß es nur "Interpretationen des jeweiligen Lebens" ("Kopfjäger", 171) geben kann, aber kein zweckfreies Erzählen eines authentischen Lebens, das unabhängig wäre von der Art seiner Präsentation, von Lebenslaufmodellen, von tradierten Formen retrospektiver Beglaubigung, zu denen auch die zeit-liche Neuordnung der Biographie gehört:

"Im Erzählen wird [...] das Diktat der Chronologie aufgebrochen." ("Erzählen", 120)

Im Gerichtssaal werden Geschichten aus dem Leben erzählt, Geschichten, die belegen sollen, daß dem Erzählen häufig eine Defizienzerfahrung vorausgeht. Denn es sind Geschädigte, Betrogene, ihrer Zukunft Beraubte, die dieses Forum in Anspruch nehmen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Viele haben erst aufgrund des Betrugs von Ego etwas zu erzählen - und dies ist annähernd äquivalent mit: etwas erlebt. Die übrigen sind von Langeweile gequälte, abgelebte Gestalten, die im Zuschauerraum sitzen, auf der Flucht vor Monotonie und Wiederholung und in der Hoffnung, hier von einem ereignishaften Leben und dem Unglück anderer zu erfahren:

"Im Saal hatten alle gespannt zugehört, auch die Pensionäre in der letzten Reihe, die während der Vernehmungen zur Person ihre Stullen ausgepackt, die Thermosflasche aufgedreht hatten - ich konnte sogar den Kaffee riechen -, saßen da, die angebissenen Stullen vergessen in der Hand." ("Kopfjäger", 148)

Hier wird ihnen die Zeit verkürzt, ohne daß sie dafür - wie die von Ego geprellten Anleger - bezahlen müßten.

Der Komplex von Besitz und Eigentum in "Kopfjäger" wäre eine eigene Untersuchung wert, zumal er auch auf "geistigen Besitz" ausgedehnt wird (vgl. "Kopfjäger", 182f.). Die Art und Weise, in der hier über diesen Komplex gesprochen wird, scheint mir für den mentalitätsgeschichtlichen Wandel unserer Gesellschaft sehr chrakteristisch zu sein. Der Protagonist, der "keine moralischen Skrupel" ("Kopfjäger", 323) kennt und die um materielle Werte Betrogenen als "sogenannte Geschädigte" ("Kopfjäger", 18) bezeichnet, ist kein insignifikanter Einzelfall, und die Geschädigten sind risikobereite Personen, die ihr überflüssiges Kapital - "Es traf ja nicht die Ärmsten" (81) - vermehren wollen, und die offenbar ohne ausreichende Sicherheiten auf die phantastischen Verlockungen des Kapitalmarktes und seiner Akteure vertrauen. Peter Walter rechtfertigt sein Handeln damit, daß er den Diebstahl als "eine Art Geschenk" ("Kopfjäger", 32) deutet, eine Formel, die auf Heinar Kipphardt zurückgeht (vgl. "Vogel", 154). Diese Äußerung wäre dahingehend zu interpretieren, daß die Betrogenen ihn - Peter Walter - mit ihrer obszönen Arglosigkeit zur Normverletzung geradezu ermuntert haben: sie wollten bestohlen sein, sie sind bewußt ein zu großes Risiko eingegangen und haben dafür ihre Quittung bekommen. Hier hat sich ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel zur Risikogesellschaft einerseits, zur Erlebnisgesellschaft andererseits vollzogen, der sich unter anderem darin ausdrückt, daß die Anleger für die Erfahrung ihres materiellen Verlustes mit einem ideellen Gewinn ent-schädigt werden, mit einer Erzählung:

"Er [scil. der Anleger Becker] hat diese Geschichte teuer bezahlt, aber sie ist [...] ihren Preis wert." ("Kopfjäger", 210)

Aus der Sicht von Ego sind die Anleger reichlich entschädigt worden, deshalb ist es auch nur konsequent, wenn er versucht, seine Education criminelle herunterzuspielen und die alte Opposition von "unbescholten versus kriminell", "Tausch versus Betrug", "Wahrheit versus Lüge" aufzulösen.

Als Teilklasse der Sprechsituation wären noch die "Redesitua-tionen" einzuführen. Die Redesituationen sind der Ort für die mündliche Rede und ihre individuellen Merkmale in der textinternen Kommunikation, für das zentrale Thema der Dialekte, Soziolekte, Idiolekte. Am Beispiel der Redesituationen führt Uwe Timm zwei komplementäre Gruppen vor, zum einen diejenigen, die eine bestimmte Redeweise anwählen, um damit eine soziale Markierung auszudrücken, und zum anderen diejenigen, die jede Form der Markierung vermeiden. Die Mutter von Ego beispielsweise wechselt, wenn sie vom Onkel spricht, von der dialektal gefärbten Rede in die akzentfreie Hochsprache, in den "geho-benen Ton" ("Kopfjäger", 13). Sie zieht ein anderes Register, als wäre sie dies der besseren sozialen Provenienz und höheren Schulbildung ihres Cousins schuldig. Eine andere Figur, Peter Walters Geschäftspartner Dembrowsky, hat sich den "Mundgeruch des Sächsischen" ("Kopfjäger", 120) bewußt abtrainiert:

"Dembrowski lutschte die Worte regelrecht ab, er war lautverliebt, labialgeil, ein Phonetik-Fetischist." ("Kopfjäger", 151)

Das akzentfreie Sprechen ist für den aus der DDR geflohenen Ökonomen die Voraussetzung dafür, im Westen Versicherungen verkaufen und als Anlageberater tätig sein zu können. Er muß seine DDR-Vergangenheit auch sprachlich verleugnen, weil niemand einem Broker vertrauen würde, der ihn an Ulbricht und das Bankrottsystem des Sozialismus erinnerte (vgl. "Kopfjäger", 120). Auch Peter Walter hat Sprachunterricht genommen, der Maxime gemäß, daß "eine klare, klingende Aussprache [...] wie ein Versprechen [sei], daß das, was man sagt, wahr ist" ("Kopfjäger", 154f.).

Neben den Sprechern, die jede Markierung in der mündlichen Rede zu vermeiden suchen, gibt es solche, die sich über ihren Dialekt, Soziolekt oder Idiolekt definieren, ihn kultivieren, um sich von anderen abzugrenzen, die "Gruppenidentitäten" ("Erzählen", 46) herzustellen suchen. Lolo zum Beispiel, die Tochter von Ego, bekundet durch ihr sprachliches Verhalten den Wunsch nach Eigenständigkeit und Unterscheidung von der Elterngeneration:

"Aktien - da winkt sie nur ab, da lächelt sie nur, da sagt sie: overätz." ("Kopfjäger", 181)

Sie markiert ihre Distanz zur Welt des Vaters, indem sie ein sprachliches Register zieht, das im Unterschied zum Dialekt eine künstliche Redeform darstellt, die weniger über die soziale Herkunft des Sprechers Auskunft gibt als über die frei gewählte Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

"Der biologische Vater ist nicht wählbar", heißt es in Uwe Timms "Römischen Aufzeichnungen".«FN~ "Vogel, friß die Feige nicht". Köln 1989: S. 152.» Wählbarkeit, so wäre wohl zu ergänzen, gibt es - im Gegensatz zur leiblichen Deszendenz - nur im Bereich des Geistigen. Der biologische Vater steht für die unveränderbaren Strukturen der Realität, der geistige Vater für den Freiraum der Phantasie. Diese Konzeption dürfte zugleich eine integrative Leseebene für Timms erzählerisches Werk beeinhalten, die Überlegung nämlich, daß es eine Opposition gebe zwischen der - einerseits - beengten und beengenden Faktizität der Wirklichkeit und der - andererseits - freien und befreienden Phantasie, die sich sprachlich erobern und erweitern lasse. Dieser mentale, erzählerisch erworbene Freiraum darf aber offenbar nichts völlig von der Wirklichkeit Losgelöstes sein, sondern ein Raum, der immer per Rückkoppelung mit der Realität korreliert ist und dadurch auf diese wiederum einwirken kann. Die Suche nach und das Erfinden von geistigen Vätern gehört zu den Formen der Kompensation einer als defizient erfahrenen Wirklichkeit. Im Vorgang des Erzählens bereits wird diese Realität transformiert, das Erzählenswerte ist ein Substrat des realen Lebens und zugleich eine Erweiterungsform:

"In der dritten Fassung, die der Onkel [...] erzählte, bekam das Laufband eine neue Bedeutung." ("Kopfjäger", 55)

Das Erzählen kommt aus dem Leben und führt in es zurück:

"Der Onkel erzählte in der dunklen Toreinfahrt solche Geschichten, und dafür durfte er die kleinen Brüste der Mädchen berühren." ("Kopfjäger", 55)

Erzählen, um - salopp gesprochen - Frauen anzumachen, um seine ganz realen, nicht zuletzt auch sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, das wird schon in "Heißer Sommer" (14f.) thematisiert. Ein Leben nur in der Literatur und nur für die Literatur wäre ein "Scheinleben" ("Kopfjäger", 292). Literatur zielt hier auf die Erweiterung des Handlungsspielraums in der Wirklichkeit. Realität und Fiktion, so wird hier implizit behauptet, können sich optimal nur dann manifestieren, wenn beide Seiten voneinander profitieren. Erzählen, dieser "schöne[] Überfluß" ("Erzählen", 8, 111), bedarf der Realität und umgekehrt.

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