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Umberto Eco und Michel Foucault

Ein Figurenspiel von Lutz Hagestedt

Das Foucaultsche Pendel (1989) – mit diesem Titel, so möchte man meinen, setzt sich Umberto Eco verstärkt nicht nur der Interpretation, sondern der Überinterpretation aus. Sein Roman mag "Über Gott und die Welt" handeln, aber nicht über Michel Foucault, und dennoch wird es Leser geben, die ihre Interpretation Richtung Foucault trimmen. Eco kommt aus der Wissenschaft und führt sein Werk in den wissenschaftlichen Diskurs zurück, er könnte seinen Titel mit Bedacht und im Hinblick auf seine Fachkollegen gewählt haben, um sie als Interpreten bis ans Ende ihrer Tage zu beschäftigen. Für mich ist es zweifellos eine Ausgangsfrage meines Vortrags gewesen, inwieweit man Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel als Beitrag zu und als Kritik an Foucault lesen könne.

Nun haben ja Literaturkritik und Literaturwissenschaft relativ schnell und enttäuscht festgestellt, daß Michel Foucault in diesem Roman überhaupt nicht thematisiert werde. 1988 bereits, als Das Foucaultsche Pendel noch gar nicht erschienen war, schrieben es die ersten Kritiker, daß hier ausschließlich vom Physiker Léon Foucault die Rede sei. Ich habe mich – ebenfalls 1988 und gleichfalls in Unkenntnis des Romans – sehr weit vorgewagt und der These entschieden widersprochen: "Die geistige Beweglichkeit dieser Kritiker" sei "einem abgehangenen Bleiklumpen vergleichbar". Ich habe damals behauptet, daß Foucault das wissenschaftliche Denken auch Umberto Ecos nachhaltig beeinflußt habe.

Die Gefahr, so zu argumentieren, liegt auf der Hand: Denn meine Erwartung, im Foucaultschen Pendel werde auch Michel Foucault thematisiert, kann sich nicht einmal darauf stützen, daß der Name Foucault im kulturellen Wissen mehrfach belegt ist. Zudem läßt sich wissenschaftlich schwer gegen Ecos Begriff der "wörtlichen Bedeutung" argumentieren: Textökonomie und pragmatische Norm sprechen dafür, zunächst nach der Relevanz und Akzeptanz des wörtlichen Sinns zu fragen. Erst dann ergibt sich die Fragemöglichkeit nach anderen, ›uneigentlichen‹ Verweis- und Beziehungsarten und übertragenen Bedeutungen. Bezüglich der möglichen Konnotation ›Michel Foucault‹ hat sich der Interpret bei der Untersuchung weiterer Relationen durch eine wissenschaftlich plausible Funktionalisierung leiten zu lassen und die Bedeutungskonstitution und die Text- und Kulturpragmatik allgemein zu reflektieren und zu respektieren.

Nun hat es Eco nicht verhindern können, daß Okkultisten seinen Roman gegen den Strich und als Bestätigung ihrer Thesen lesen würden – und nicht nur Okkultisten, sondern auch Philologen. Sein Roman führt vor, daß die "Jagd nach Analogien", wie sie von seinen Figuren Belbo, Casaubon und Diotallevi, aber auch von Agliè, vom Oberst Ardenti und anderen betrieben wird, zu wahnsinnigen Auswüchsen führt. Der Analogieschluß, der bereits Schopenhauer als Urheber einer metaphysischen Welterklärung ausweist, wird von ihm als Instrument zügelloser Verknüpfungen vorgeführt und als irrational zurückgewiesen. Michel Foucault wurde bei der Disputation seiner Thesis der Vorwurf gemacht, "in Analogien zu denken", und es ist die Frage, inwieweit man dies als Kritik an der Arbeit der Strukturalisten lesen könne, die auch eine Art "wildes Denken" praktizieren.

Der Titel eines Romans ist nun – in Verbindung mit dem Namen eines Autors – ein erstes wichtiges Signal an den Leser. Bereits bei Der Name der Rose war dies zu beobachten: Für Leser aus dem Raum der Wissenschaft, die Umberto Eco als Kollegen kannten, die vielleicht die Entfaltung seiner Theorie der Semiotik seit den sechziger Jahren beobachtet hatten, eine international erfolgreiche und weithin konsensfähige Theorie der Zeichen, die bald auch in deutscher Sprache vorlag – zu nennen wären vor allem Das offene Kunstwerk (1962) und die Einführung in die Semiotik (1968) – für diese Leser also war Ecos Romantitel Der Name der Rose ein wichtiges Signal, den Text als Experiment der Umsetzung einer elaborierten Zeichentheorie in Literatur zu lesen. Der Titel wurde als Appell eines Wissenschaftlers an die professionellen Leser aus dem universitären Milieu verstanden. Und Eco hat auch einmal in einem Interview gesagt, daß es ihm nicht genügen würde, die Akzeptanz eines breiten Publikums zu finden; nein, er braucht sie auch von der Kritik und von den Fachkollegen – er muß die Massen- mit der Elitekultur versöhnen. "Hoffentlich", spottete Gustav Seibt bei Erscheinen des Foucaultschen Pendels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, "merken die professionellen Exegeten auch, daß vor allem sie gemeint sind."

Nun war sich Umberto Eco seit seiner Titelfindung darüber im klaren, "daß man hier eine Anspielung auf Michel Foucault vermuten konnte: Meine Personen sind besessen von Analogien, und Foucault hat über das Paradigma der Ähnlichkeit geschrieben. Als empirischer Autor war ich nicht sehr glücklich über diese Möglichkeit, weil ich den Bezug auf Michel Foucault für ziemlich unwichtig halte."

Eco hat, indem er seinen Roman so nannte, wie er ihn nannte, den Erwartungshorizont begrenzt: Der "Foucaultsche Pendelversuch" ist ein klar definiertes Wissenselement aus der höheren Schulbildung und steht in jedem Taschenlexikon, was für Michel Foucault erst seit kurzem auch gilt. Man muß den Titel also bewußt uneigentlich lesen und bewußt ein spezifisches (Teil-)Wissen einbringen, um argumentieren zu können, es gehe womöglich auch um Michel Foucault. Um es gleich vorauszuschicken: Es ist meines Erachtens sehr fraglich, ob Michel Foucault im Text überhaupt einen Platz hat; wahrscheinlicher ist, daß er nur im ›kulturellen Wissen‹ der Rezipienten verankert ist. All meine Verknüpfungen funktionieren nur textextern über Ecos Selbstinterpretationsäußerungen. Mir geht es hier um die Abgrenzungsprobleme zwischen Text und Kultur, zwischen System und Umwelt, und damit letztlich um einen Metaaspekt.

Unser Autor hätte seinen Roman auch einfach "Foucault" nennen können, dann wäre er zunächst offener gewesen, dann wäre prima facie nicht klar gewesen, um welchen Foucault es hier geht: Um den Physiker, den Kulturarchäologen oder einen dritten, ›fiktiven‹ Foucault – wobei: Fiktiv wären sie im Medium des Romans alle, nur Léon und Michel hätten insofern einen Doppelstatus, als sie auf eine Realität auch außerhalb der Fiktion referieren. Umweltlich und natürlich textlich wird eine weitere Selektion und damit eine Reduktion der (bzw. aus der) Bedeutungsvielfalt vollzogen: Und "umweltlich" bedeutet in diesem Falle auch durch den Autor, durch Autorkommentare, durch Literaturkritik und Literaturbetrieb, durch literaturwissenschaftliche Analysen usw. Doch ist es heuristisch grundsätzlich so, daß durch diese umweltliche Selektion die Bedeutungsvielfalt des Textes selbst unberührt bleibt. Auf den Autor bezogen, hieße dies: Was er einmal an Lesarten in sein Kunstwerk hineingelegt hat, kann er nicht a posteriori wieder herausnehmen. Er kann jedoch mit dem Gewicht seiner Urheberschaft versuchen, aus dem Pool möglicher Lesarten seine Auswahl zu treffen und nur sie für zulässig zu erklären. Die Zulässigkeit dieser Selektion kann, muß uns aber nicht überzeugen. Und so haben wir hier die Auffälligkeit, daß wir, obwohl der Roman dies selbst nicht zu rechtfertigen scheint, Michel Foucault zum Thema machen können. Nur muß man sich über die Grenze klar werden, wo man das Werk noch interpretiert und wo man es nur benutzt, um eine Semiose zu initiieren, die potentiell unbegrenzt und abwegig ist. Ich meine, Umberto Eco hat dies selbst getan: Wir haben es hier mit einem Autor zu tun, der bereits im Vorfeld der Publikation seiner Romane aktiv intervenierende Dispositive plaziert, deren Funktion es ist, das eigene Werk zu interpretieren und sich mit möglichen und tatsächlichen Interpretationen seines Werkes durch Dritte auseinanderzusetzen und zu umgeben. Wie der Mond verfügt er über einen "Hof" indirekten Lichts, und für den Laien wie den Fachmann ist es bisweilen nicht zu erkennen, ob er selber scheint oder nur beschienen wird. Dieser Autor tendiert als ›literarischer‹ Autor dazu, die Grenzen zwischen Text und Interpretation durchlässiger zu machen und zu verwischen. Er hat seine Romane quasi mit Aureolen umgeben, Der Name der Rose mit einer Nachschrift (1983), das Foucaultsche Pendel mit den Grenzen der Interpretation (1990), Die Insel des vorigen Tages (1994) mit einer Fülle von Sekundärtexten, Interviews, Aufsätzen, Selbstinterpretationen. Er praktiziert kein hermetisches, sondern ein ›offenes‹ Denken, das von der Vorstellung der ›signaturae rerum‹, also der "formalen Aspekte der Dinge" durchdrungen zu sein scheint, "die durch Ähnlichkeit auf die formalen Aspekte anderer Dinge verweisen (von der sublunaren auf die astrale Welt und von dieser auf die spirituelle Welt)."

Das "Paradigma der Ähnlichkeit" hat Michel Foucault in seinem frühen Hauptwerk Die Ordnung der Dinge (1966) thematisiert, und diese "Archäologie der Humanwissenschaften" scheint – mit Ausnahme der Vorlesung Was ist ein Autor? aus dem Jahre 1969 – das einzige Werk des französischen Philosophen zu sein, das Umberto Eco intensiver rezipiert und des öfteren zitiert hat.

Nun ist ›Ähnlichkeit‹ ein relativer und vor allem subjektiver Begriff, Foucault hat es thematisiert. Ähnlichkeit, die "Korrelation durch Ikonizität", gilt als unscharf und flexibel. Sie entspricht eher der Assoziation und Konnotation als der Denotation. Das kann ein Nachteil sein, für die Wissenschaft zum Beispiel, die auf Präzision setzen muß – auch deshalb werden etwa in der medizinischen Diagnostik nicht nur die Symptome abgefragt, die auftreten können, sondern auch die, die nicht auftreten dürfen. Nur so ist es möglich, eine Krankheit und ihre Ursache eindeutig zu bestimmen. Der Semiotiker Eco hat dies auch einmal an einem Beispiel ausgeführt: "Ein Arzt stellt fest, daß alle seine Zirrhose-Patienten gerne Whisky-Soda, Kognak-Soda oder Gin-Soda trinken, woraus er schließt, daß Soda Leberzirrhose verursacht. Offenbar ein Irrtum, der darauf beruht, daß er übersieht, welcher weitere Faktor allen drei Fällen gemeinsam ist: Alkohol. Außerdem läßt er alle jene Abstinenzler außer acht, die nur Soda trinken und keine Leberzirrhose haben." Die isolierte Auswertung unscharfer und unspezifischer Indizien ist eine Vorbedingung der hermetischen Semiose der Okkultisten, Quacksalber, Sterngucker, Wunderheiler, möglicherweise auch für bestimmte Disziplinen wie die Literaturwissenschaften, denen diese Unschärfe Raum läßt, sich zu entfalten, nicht zuletzt auch für den Feuilletonisten, der seinen Scharfsinn demonstriert, indem er im Heterogenen das Gleiche und im (scheinbar) Ähnlichen das Differente aufsucht. Über den Feuilletonisten Umberto Eco schrieb Friedhelm Rathjen in der ›Zeit‹: "Das Aufspüren gemeinhin übersehener Ähnlichkeiten in den Strukturen oberflächlich ganz und gar verschiedener Sachverhalte ist fast immer höchstes Erkenntnisziel."

Der Meister der "Anspielungskunst" hat nun in seinem Buch über Die Grenzen der Interpretation behauptet, er habe gehofft, daß die Leser die Verbindung zwischen dem Foucaultschen Pendel und Michel Foucault nicht ziehen würden. Das klingt wenig wahrscheinlich und wenig glaubhaft; dies zu behaupten ist entweder naiv oder ›boshaft‹. Es wäre vielleicht etwas anderes, wenn ein x-beliebiger Autor seinen Roman Das Foucaultschen Pendel nennen würde. Wenn ein Umberto Eco seinen Roman so nennt, dann erweckt dies eine besondere Erwartung. Denn es erscheint zunächst nicht vorstellbar, daß er einen Roman mit einem solchen Titel versieht, ohne auf Michel Foucault zu sprechen zu kommen. Genau dies scheint er aber zu tun: Es scheint so, als wolle er, zumindest auf der Textoberfläche, die ganzen 768 Buchseiten lang, auf Foucault nicht eingehen wollen; wäre dem so, dann würde Michel Foucault nur in den Köpfen seiner Leser herumspuken, ohne daß es dafür eine textuelle Basis gäbe, und auch nur in den Köpfen jener Leser, die etwas von der Bedeutung Michel Foucaults für unser Wissenssystem verstünden, und des weiteren derer, die davon unterrichtet sind, daß es mehreres Diskurstypen ›Eco‹ gibt, mindestens deren zwei, den Romancier und den Wissenschaftler Eco. Vom Semiotikprofessor Eco dürften sie wiederum wissen, daß er sich mit jenem anderen Wissenschaftsgenie mehr oder weniger sporadisch, mehr oder weniger systematisch auseinandergesetzt hat. Also würde, so meine Vermutung, für sie vor allem allein durch die Titelgebung ein Signal ausgegeben, würde eine Erwartungshaltung aufgebaut, die da lauten würde, etwas flapsig formuliert: Wann kommt er denn endlich vor, der Michel Foucault? Nun ist dieser Gedankengang so naheliegend, daß er Umberto Eco selbstredend auch gekommen ist. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Er hat die zufällige Namensgleichheit des Physikers mit dem Humanwissenschaftler billigend in Kauf genommen und sich sonst nicht weiter darum gekümmert. Das scheint mir extrem unwahrscheinlich zu sein, aber Eco hat genau dies von sich behauptet: "Aber das von Léon erfundene Pendel war der Held meiner Geschichte, und ich konnte den Titel nicht ändern: Also hoffte ich, daß mein Modell-Leser diesen Bezug zu Michel nicht herstellen würde." Die andere, zweite Möglichkeit ist, daß er diese Namensgleichheit bewußt provoziert hat. Nehmen wir einmal an, er hätte sie bewußt provoziert und würde also bewußt mit ihr ›arbeiten‹, allein schon dadurch, daß er sie an exponierter Stelle, nämlich im Titel aufführt, dann gäbe es wiederum zwei Möglichkeiten, nämlich daß er sich bloß einen Spaß daraus gemacht hat, seine gebildeten Leser auf die falsche Fährte zu führen; dies schiene mir extrem unwahrscheinlich. Oder aber, daß er sich gesagt hätte: Ich enttäusche die von mir selbst geweckten Erwartungen nur scheinbar, verschleiere die Referenz auf Michel Foucault auf der Textoberfläche und führe ihn auf anderer, abstrakterer Ebene wieder ein, nur sichtbar für die, die diese Abstraktionsleistung nachvollziehen werden. Nun wäre Eco ein solcher Gedankengang durchaus zuzutrauen. Ich zitiere eine Passage aus seinem Roman, es ist ein Gespräch zwischen Casaubon und seiner Freundin Amparo:

Casaubon: "Natürlich war´s mit dem Abstreiten nicht getan. Denn so wie die Dinge inzwischen lagen, wenn einer daherkam und sagte, guten Tag, ich bin ein Rosenkreuzer, dann bedeutete das, daß er keiner war. Ein Rosenkreuzer, der auf sich hält, sagt nicht, daß er einer ist. Im Gegenteil, er streitet es lauthals ab."

Amparo: "Aber man kann doch nicht sagen, wer sagt, er wäre kein Rosenkreuzer, ist einer. Denn auch ich sage dir, daß ich keiner bin, und deswegen kannst du noch lange nicht sagen, ich wäre einer."

Casaubon: "Aber es abzustreiten ist schon verdächtig."

Amparo: "Nein. Denn was macht ein Rosenkreuzer, wenn er kapiert, daß die Leute dem, der sagt, daß er einer ist, nicht glauben, und den, der sagt, daß er keiner ist, verdächtigen? Er fängt an zu sagen, daß er einer ist, um sie glauben zu machen, er wäre keiner."

Casaubon: "Du sagst es. Also müßten von jetzt an alle, die sagen, sie wären Rosenkreuzer, lügen und somit tatsächlich welche sein! Ah, nein [...], laß uns nicht in ihre Falle gehen. Sie haben ihre Spione überall, sogar hier unter diesem Bett, und daher wissen sie jetzt, daß wir Bescheid wissen. Also sagen sie, daß sie keine sind."

Lassen Sie uns nicht in diese Falle gehen. Wenn ein Text auf einen Autor bzw. auf eine vorgängige Theorie referiert, so kann er dies implizit oder explizit tun. Wenn er es implizit tut, so kann er Strategien entwickeln, die seine Bezugnahme verschleiern. Wenn er seine Theorie- oder sonstige Diskursreferenz verschleiert, so kann er dies so geschickt tun, daß sie bloß noch für Experten und Eingeweihte erkennbar bleibt, oder so, daß die Verschleierungsoperation selbst sichtbar wird und auf das ›hinter‹ ihr liegende theoretische oder poetische Konzept verweist. Wenn er aber explizit auf eine vorgängige Theorie referiert, kann er dies wiederum auf mehrfache Weise tun: Er kann etwa eine Erzählinstanz verwenden, die auf jene textexterne Theorie explizit verweist; und er kann damit den hohen Rang jener Theorie für seinen Text postulieren; er kann aber auch, beispielsweise etwas weiter unten, auf der Ebene der Figurenrede, eine Figur im Sinne jener Theorie sprechen und argumentieren oder gar auf die Theorie verweisen lassen, ohne daß damit eine generelle Lesart für den Text postuliert würde. Er könnte dies etwa so tun, daß er auf dieser Ebene der Figurenrede auch andere Theoriemodelle entstehen läßt, die eine vergleichbare Valenz für den Text haben. Und er könnte damit zugleich zeigen, daß es eine Konkurrenz verschiedener Theoriemodelle in der dargestellten Welt selbst gibt, und er könnte es dadurch offen lassen, welches Theoriemodell sich in seinem Text letztlich durchsetzen wird, sofern sich überhaupt ein Modell durchsetzt. Eine andere Möglichkeit bestünde etwa darin, topographische, topologische oder rein semantische Räume einzuführen, die erkennbar auf vorgängige Modelle referieren. Im Falle Eco wäre es, nur als Beispiel, denkbar, daß ein Autor die Funktion, die Bestimmung und Neubestimmung sozialer Räume im Foucaultschen Sinne beschriebe, die Transformation der Leprastationen in Wahnsinn und Gesellschaft etwa zu Irren- und Strafanstalten am Horizont der Renaissance. Der Autor könnte dies wiederum direkt tun, oder aber indirekt, indem er nicht dieselbe, aber eine analoge Umwidmung von Räumen vornähme. Das Ergebnis einer solchen Neuordnung von Räumen und Funktionen in Ecos Roman wäre das Pariser Technologiemuseum und seine Abteikirche Saint Martin-des-Champ, das Conservatoire des Arts et des Métiers und der ehemalige Sakralbau, der als Museum und Hinrichtungsstätte Belbos dienen wird – einer der zentralen topographischen Räume des Romans. Ähnlich wie in Überwachen und Strafen wird hier ein sakraler Raum zum Ort eines Schauprozesses und einer Hinrichtung. Dies wären freilich eher assoziative Entsprechungen. Interessanter wäre es, wenn sich ein grundlegender denksystematischer Aspekt finden ließe, der durch Übernahme von Foucault in den Text hereingekommen wäre, etwa die Beschreibung des Autors als Funktion, etwa seine ›Archäologie‹ als Methode von Wissensbildung usw.

Was es auch ermöglicht bzw. ermöglichen könnte, Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel und Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft in Beziehung zu setzen, ist die These, daß beide Texte eine Symbiose wissenschaftlicher und poetischer Rede darstellen: Die Systematik, mit der Eco in seinem Roman dieses Wahnsystem okkulter Vernetzungen errichtet, die enorme Gelehrsamkeit, mit der er große Wissensmengen aufbereitet und zu einer "unendliche[n] Reihe von Konnotationen" verbindet, die Interpretationstheorie, die er dafür entwirft und seinen Figuren in den Mund legt. Kurz gesagt, da, wo Eco für uns interessant ist, spricht er als Wissenschaftler. Nun möchte er auch Poet sein, und hier erlebt er des öfteren seinen ästhetischen Absturz: Ich erinnere nur an die Lia-Handlung, in der Eco "eine Art Anthropologie des verantwortlichen Zeichengebrauchs" (Gustav Seibt) entwickelt: Die schwangere Lia spricht "mit der Klugheit derer, die wissen, woher das Leben kommt." Sie steht quasi für die Balance von Geist und Körper, Sinnlichkeit und Vernunft.

Umgekehrt Michel Foucault: das ist eine Form von Wissenschaft, wie wir sie in Deutschland vor ihm überhaupt nicht kannten. Hier spricht ein Historiker, ein Ideengeschichtler, ein Philosoph, ein Psycho- und Soziologe, ein Textanalytiker, ein großer Systematiker, Theoretiker und Enzyklopädist, aber hier spricht auch ein Geschichtenerzähler, bei dem literarische Produktion und wissenschaftliche Analyse Hand in Hand zu gehen scheinen, bei dem sich das Gesagte in der Schreibpraxis der "réécriture" verändert und sich für neue Diskursformen öffnet. Ein Strukturalist, der es selber vermeidet, sich so zu nennen, der methodologische Fragen in einer Darstellungsform zu stellen und zu beantworten weiß, die zwar "um präzise Begrifflichkeit bemüht ist", aber nicht unbedingt "in linearer Argumentation fortschreitet, sondern die Kategorie der geschlossenen Form in der eigenen Textur auflöst" (Wilhelm Miklenitsch). Schon die starke Gewichtung literarischer Quellen des Wissens, ihre Gleichbehandlung im Denksystem, die Neubewertung der Sprache des Wahnsinns als einer "Poesie der Welt" zeichnen Foucault aus. Gaston Bachelard sprach von einer "Verflechtung von Wissenschaftsgeschichte und poetischer ›Vision‹." Was nun Umberto Eco und Michel Foucault weiterhin vergleichbar macht, ist, daß sie beide von sehr ähnlichen Voraussetzungen ausgehen: Daß nämlich der Wahnsinn eine Wurzel im System der Kultur hat, nämlich in dem von ihm kodifizierten Wissen und den Gegenstandsbereichen des Wissens, daß der Wahnsinn nur als kulturelles Phänomen existiert und folglich eine Geschichte hat, die älter ist als die Geschichte der Vernunft, aber eng mit ihr korreliert; daß ferner alle Ausprägungen des Wahnsinns mit Macht und Machtausübung und dem verzweifelten Versuch, Macht zu erlangen, zu tun haben, im historischen Gefüge von ›wahr‹ und ›falsch‹ auf der Seite der Wahrheit zu stehen, und zwar möglichst nahe bei der ›letzten Wahrheit‹ - noch der ärmste Sünder möchte sein wie Gott.

Gibt es darüber hinaus motivische Übereinstimmungen zwischen Eco und Foucault? Natürlich, motivische Übereinstimmungen gibt es immer, aber das hat ja unsere Textwissenschaften so in Mißkredit gebracht, diese Motivforschung, die nach dem ähnlichen ›Stoff‹ fragt, aber nicht nach seiner funktionalen Äquivalenz im jeweiligen Kontext. Die Motivforschung betreibt – ähnlich wie der Okkultismus – "eine kranke Lektüre der Zeichen". Und das kritisiert Eco zurecht, und diese Kritik am wilden Assoziieren und Konnotieren und Verknüpfen ist nichts weniger als die Basis seiner Romankonstruktion. Eine motivische Übereinstimmung bringt also zunächst einmal gar nichts. Damit kommen wir bloß auf die eingangs zitierte Ähnlichkeit zurück. Ein Beispiel: Ich-Erzähler von Ecos Roman ist ein gewisser Casaubon, und er hat einen Namensvetter, Isaac Casaubon, der – Eco zufolge – das Corpus Hermeticum entmythisiert hat. Das Corpus Hermeticum, das im 15. Jahrhundert nach Europa kam, entfaltet unter anderem eine "magisch-astrologische Sicht des Kosmos". Wer die planetarischen Gesetze kenne, dieser Glaube ist schon im archaischen Wissen verankert, könne die Ereignisse im Weltenlauf "nicht nur voraussehen, sondern auch lenken": "Es gibt ein Sympathieverhältnis zwischen dem Makrokosmos des Universums und dem Menschen als Mikrokosmos, und man kann durch astrale Magie auf das Kraftfeld dieses Verhältnisses einwirken. Ins Werk gesetzt werden diese magischen Praktiken durch Worte oder andere Zeichenformen. Es gibt eine Sprache, in der man den Sternen Befehle erteilen kann. Die Mittel, mit denen man dieses Wunder bewirkt, sind die Talismane, das heißt Figuren und Bilder, die ihrem Träger Heilung, Gesundheit und physische Kraft bringen können [...]. Die Magie der Talismane kann wirken, weil das Verhältnis zwischen den verborgenen Kräften der Dinge und den himmlischen Wesen, die ihnen diese Kräfte zuführen, durch Signaturen ausgedrückt wird, das heißt durch jene formalen Aspekte der Dinge, die mit den formalen Aspekten der Himmelskörper durch eine Ähnlichkeit korrespondieren."

Diese Denkfigur der Ähnlichkeit wird im okkulten Denken über Gebühr strapaziert. Eco führt vor, daß, wer nur nach Ähnlichkeiten, Parallelen, Entsprechungen, Verweisungen und letztlich also unwichtigen Details fragt, nach dem Echo und dem Widerschein von Themen, und nicht auch nach den Besonderheiten, Unterschieden und Widersprüchen, wer also die Gegenprobe versäumt, bereits Gefahr läuft, wilde Formen des Wahns auszubilden. Und das begegnet uns ja ständig. Solche noch milden Formen des Beziehungswahns finden wir allerorten, sogar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: da gehen Magazinsendungen dazu über, ihrem Publikum Befindlichkeitshoroskope zu erstellen, da werden sogenannte Schamanen, Seher und Wunderheiler in Nachmittagsshows eingeladen und mit aller zur Schau gestellten Ernsthaftigkeit befragt, da dürfen zwielichtige Gestalten zur Hauptsendezeit Gabeln verbiegen und Kartoffeln zerquetschen. Und die Medien unterstützen diesen Betrug.

Umberto Eco tut gut daran, auf diesen wahnhaften Verknüpfungszwang hinzuweisen, der uns bei den täglichen Horoskopen, scheinbaren Ereignishäufungen (von Katastrophen usw.) eine falsche Regelhaftigkeit vorgaukelt und falsche Beziehungen, Orientierungen, Verbindungen stiftet. Von hier läßt sich überleiten auf das Problem der Wissenschaftslogik, der vorgetäuschten oder mißbrauchten Wissenschaftlichkeit. Eco teilt mit Foucault den grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber epistemischen Kurzschlüssen. Das wirklich "Perverse", heißt es einmal im Foucaultschen Pendel, sei "die Logik der Forschung [...], denn sie ist die Logik der Wissenschaft." Und an der Wissenschaft, so muß man ergänzen, als dem dominanten Diskurs unserer Gesellschaft, orientieren sich auch nichtwissenschaftliche Diskurse, sofern sie von den Gebildeten akzeptiert sein wollen: "Seit der Goethezeit bis heute kann der Nachweis des Okkulten [...] in einer für die ›Gebildeten‹ akzeptablen Argumentation [...] nur mehr geführt werden, wenn man die Wissenschaft scheinbar nicht ablehnt, sondern mit ihren eigenen Methoden zu schlagen vorgibt: aller anspruchsvolle Irrationalismus modelliert sich seitdem nach dem Vorbilde seines Gegners und strebt eine pseudowissenschaftliche Struktur an" (Michael Titzmann).

Pikanterweise ist der erste Gesang von Sebastian Brants Narrenschiff (1494) den Büchern und Wissenschaftlern gewidmet, den Gelehrten mit Schlafmütze und Narrenkappe, und die historischen Holzschnitte zeigen, wie bedeutsam das Wissen für den Wahnsinn ist: Der Wahnsinn "ist die Strafe einer aus den Regeln geratenen und unnützen Wissenschaft. Wenn er die Wahrheit der Erkenntnis ist, heißt das, daß die letztere lächerlich ist und daß sie, statt sich an das große Buch der Erfahrungen zu wenden, sich im Staub der Bücher und in den müßigen Diskussionen verliert. Das Wissen wird durch den Exzeß der falschen Wissenschaften selbst zum Wahnsinn."

Sebastian Brants Narrenschiff, als Ständesatire angelegt, ist für beide Autoren, Eco wie Foucault, ein wichtiger Referenztext. Ecos Roman kann als ›moralische Lektion‹ gelesen werden, er steht damit in der Tradition des Moralsatirikers Sebastian Brant, er ist ein Vertreter lateinisch klarer "Sapientia", der Lebensklugkeit, die sich im rational-weltlichen Raum bewähren muß. Auch deshalb kommen seine Hauptfiguren aus den Wissenschaften, Casaubon beispielsweise, der an einer Doktorarbeit über die Templer sitzt und dessen Verstrickung in den "großen Plan" in die Geburt des Schriftstellers mündet: "Unter den Diabolikern bewegte ich mich inzwischen mit der Unbefangenheit eines Psychiaters, der seinen Patienten zugetan ist und die Brisen balsamisch findet, die durch den weiten Park seiner Privatklinik wehen. Nach einer Weile beginnt er, Texte über den Wahn zu schreiben, dann wahnhafte Texte. Er merkt nicht, daß seine Kranken ihn angesteckt haben – er glaubt, er wäre ein Künstler geworden."

Ein Komplex, der für beide, Foucault wie Eco, von grundsätzlicher Relevanz ist, ist der des ideologisch unbesetzten Raumes und des leeren Geheimnisses. Bei Eco, das ist klar, ist es der "große Plan", der von seinen drei Protagonisten Belbo, Casaubon und Diotallevi ausgeheckt wird und der seinen Erfindern deshalb so gefährlich wird, weil sein "Geheimnis" leer ist. Belbo kann sich deshalb auch nicht freikaufen und das Geheimnis – quasi als Gegengabe für sein Leben – verraten. Es existiert nicht, und das können die Okkultisten ihm natürlich nicht glauben. Es ist evident, daß Initiierte ihr Wissen leugnen und leugnen müssen, insbesondere dann, wenn dieses Wissen von zweifelhafter Substanz und Provenienz ist – und die "spirituelle Ritterschaft" unseriös. Belbo wird es zum Verhängnis. Bei Foucault verhält es sich umgekehrt: In Wahnsinn und Gesellschaft geht es um den Erwerb von Wissen und um die "Überschreitung der Verbotsgrenzen des Wissens": "Über dieses so unzugängliche und zu fürchtende Wissen verfügt der Irre in seiner unschuldigen Narrheit bereits. Während der über Verstand und Weisheit verfügende Mensch lediglich fragmentarische und um so beunruhigendere Gestalten davon wahrnimmt, trägt der Irre es vollständig in einer unzerbrochenen Kugel: jene Kristallkugel, die für alle leer ist, ist in seinen Augen gefüllt mit der Dichte eines unsichtbaren Wissens. Bruegel macht sich über den Kranken lustig, der versucht, in diese Kristallkugel einzudringen." Was sagt uns dieses Wissen der Wahnsinnigen voraus? "Offensichtlich, da es das verbotene Wissen ist, sagt es zugleich die Herrschaft Satans und das Ende der Welt, das letzte Glück und die endgültige Bestrafung, die Allmacht auf Erden und den Höllensturz voraus."

Umberto Eco ist ein Autor, der zu jener Spezies gehört, die den öffentlichen Resonanzraum sofort mitbedenken, wenn sie ein neues Buch vorlegen. Die Begleitumstände des Foucaultschen Pendels waren von einem verdächtigen Rumoren begleitet. Eine gewaltige Medienmaschine ist hier angelaufen, und der Medienprofi und Medienwissenschaftler hat sich nicht gescheut, die Einführung seines Buches auf den jeweiligen Märkten mit Selbstauskünften zu begleiten. So hat er etwa verbreitet und verbreiten lassen, es gebe einen autobiographischen Strang in seinem Opus, nämlich Belbos Kindheit in den vierziger Jahren in Piemont und seinen Auftritt mit der Trompete am Grabe eines Partisanen: "Das habe ich selbst erlebt, als ich 13 Jahre alt war". Diese Antwort nach dem Motto ›Belbo – das bin ich selbst‹ erscheint uns geradezu obszön. Zu interpretieren ist, weshalb und an welchen Punkten uns Eco aus dem relativ geschlossenen Kosmos seines Romans herauszuführen versucht und welche Probleme daraus für sein Konzept der Person und die Grenzen zwischen Text und Kultur entstehen. Sind es bloß motivische Ähnlichkeiten oder sind es strukturelle Äquivalenzen, gibt es hier ein elaboriertes Verweissystem oder nur den Verknüpfungswahn der Interpreten, ist ein "freies Spiel der Interpretationen" möglich, das Foucault integriert, aber Gefahr läuft, mehr oder minder esoterischen Interpretationspraktiken zu verfallen, oder ist Eco zu folgen, der sich – zumindest metatextuell – bemüht, Foucault auszuschließen. Entfaltet der Wahnsinn "seine akademischen Spiele", wie Eco demonstriert, dann ist – wie Foucault ausführt – "der Wahnsinn auch in der gelehrten Literatur an der Arbeit, im Herzen der Vernunft und der Wahrheit selbst."

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